Siebenundzwanzig Nationen – und eine Idee, die es zu bewahren gilt
Neulich war ich mit meinem Sohn in Straßburg, diese bildhübsche Stadt, die einen Steinwurf von uns entfernt liegt. In meiner Kindheit und Jugend passierten wir die Landesgrenze ins Elsass sehr, sehr oft. Zum Einkaufen, zum Flammkuchen essen, um durch Weißenburg zu schlendern oder in Lauterbourg zu baden. Das Passieren der Grenze war immerzu spannend für uns Kinder. Würden wir kontrolliert werden? Stets langsam fuhren wir an den Grenzposten vorbei, die in Uniform und Maschinengewehr im Anschlag in die Autos blickten und sporadisch welche durchsuchten. Ein Panzer stand da auch immer. Heute gibt es diese Grenze nicht mehr, nicht mehr visuell. Die Soldaten, die Panzer, sie sind nicht mehr da.
Ich habe von diesem Europa profitiert wie kein anderer. Damals erweckte mein Zivildienst in Mainz meine Reiselust. Mit einem Intervall-Ticket reiste ich im Anschluss durch ganz Europa. Durch Belgien, Luxemburg, Niederlande, Frankreich, Spanien, Portugal, nach Afrika., in die Sahara und wieder zurück, nach Italien, Österreich, überall hin. Ich sah den Omaha Beach in der Normandie, sah die Relikte des Krieges und des Terrors und liebte Amerika dafür, uns befreit zu haben von dieser Idee des Wahnsinns.
Später studierte ich in Spanien, in Andalusien und Katalonien, ging für meinen ersten Job nach England, und dann ging es für mich nach China, nach Tianjn und Shanghai. Neulich traf ich hier in Landau eine Chinesin mit ihrem Kind. Wir unterhielten uns und fanden es beide verrückt und traurig, dass die Stimmung zwischen unseren beiden Ländern gerade so ist, wie sie ist. Wir beide, das sagten wir auch, waren jeweils eine Familie, einfache Leute, mit gemeinsamen Ängsten und Wünschen, mehr nicht. Diese Missgunst, diesen Hass Chinas gegenüber, ich halte das fast nicht aus. Ich habe die Menschen dort getroffen, sie leben gesehen, sie lieben gelernt. Stets fröhlich, tanzend, lachend, die Gesellschaft suchend. Die Chinesen sind tolle, das Leben bejahende, fröhliche Menschen. Dass ich das so sehe, wie ich es sehe, liegt an der Begegnung mit dieser Kultur an sich, die mir Weltoffenheit, auch in Form offener Grenzen, möglich gemacht hat.
Ich ging mit meinem Sohn nach Straßburg, um ihm das Europäische Parlament zu zeigen. 27 Flaggen stehen vor dem Gebäude, vereint unter dem blauen Banner der Union. Geht man an einen Ort wie diesen, dann wird einem klar, was für eine Schwierigkeit die Umsetzung dieser Idee war und was für ein Wunder diese ist. Hunderte Millionen Menschen, verschiedene Sprachen, verschiedene Kulturen, vereint unter dem Mantel demokratischer Werte und niedergerissenen Grenzen. Es ist nicht lange her, da war ich an der Maginot-Linie, jener ehemaligen befestigten Grenze zwischen Deutschland und Frankreich. Einer Grenze aus Beton, Maschinengewehren, Panzern und Bunker. Gebaut, um einander zu töten.
Ich wollte, dass mein Sohn diese 27 Flaggen sieht. Begreift, was das ist, diese Idee Europas, die erkämpft ist aus Kriegen und Blut.
Ich kann nicht begreifen, dass Menschen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren die AFD wählen. Eine Partei, die diese Idee hinterfragt und konterkariert. Eine Ansammlung von Menschen, die nicht mehr das Gemeinsame suchen, sondern das Abgrenzende. Ich kann nicht begreifen, dass junge Menschen, denen die Welt noch offener steht als mir früher, die mehr Freiheiten haben als alle Generationen zuvor, dass diese Generation Grenzen sehen will, Wälle, Zäune und Soldaten in Uniformen an unseren Grenzen.
Es ist schwer für mich zu ertragen, dieser Hass Politikern gegenüber, dieser offen zur Schau gestellte Hass und Anfeindung. Und noch schwerer für mich ist es, diese Haltung bei mir nahstehenden Personen erfahren zu müssen, unter Kollegen, in der Familie, überall.
Gibt es nicht wichtigere Ziele in diesem Leben, wichtigere Themen, für die es zu kämpfen gilt? Umwelt, Klima, Ozeane, Artensterben, die Erkundung des Alls, was weiß ich. Sollten wir uns nicht gemeinschaftlich mit aller Kraft auf den Erhalt dieses Planeten konzentrieren, statt die erneute Eskalation zu suchen?
Deshalb fuhr ich mit meinem Sohn nach Straßburg, über eine offene Grenze, und ließ mich mit ihm treiben durch die bunten Straßen, diese andere Kultur unserer Nachbarn. Betrachtete mit ihm 27 Flaggen und versuchte sie zu beantworten, Frage um Frage.
Es ist wichtig einen Wall zu bilden, einen Widerstand gegen diese gegenwärtige Stimmung. Diese Idee Europas, sie ist eine der größten Errungenschaften, die es wert ist zu verteidigen. Mit Worten, nicht mit Waffen. Mit Toleranz, nicht mit Hass. Mein Sohn hat das verstanden, viele Erwachsene scheinbar nicht. Erwachsene, deren Eltern noch in den Schützengräben standen. Sie negieren, verharmlosen, reden herunter, und sollten es doch viel besser wissen.