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Kelvin Kiptum – ein Nachruf. Über einen jungen Mann, der aus dem Nichts kam und alles auf den Kopf stellte

Dieser Text stand stand eine ganze Weile im Entwurf. Lange schon wollte ich über Kelvin Kiptum schreiben. Und nun, kurz vor Veröffentlichung, las ich die unfassbar traurige Nachricht, dass er im jungen Alter von nur 24 Jahren gestorben ist. Und nun musste ich den Text umschreiben. Aus dem Mann, der voraussichtlich als erster Mensch die 2-Stunden-Marke auf den Marathon unter regulären Umständen geknackt hätte, wird nun leider der, der sie gegebenenfalls hätte knacken können, was wir aber niemals erfahren werden. Aus einem von Vorfreude geprägten Text ist eine Art Nachruf geworden. Es bricht mir wirklich das Herz zu wissen, dass ein so großes Talent, aus meiner Sicht einer der größten Sportler der Geschichte, lange vor der Blüte des Lebens aus dem Leben gehen musste, ohne dass die Welt von ihm groß Notiz nahm. Gestern gab es nicht einmal eine Schlagzeile in den Tagesthemen. Ein Grund mehr für mich euch mitzuteilen, wer Kelvin Kiptum war. Nun denn…

Grenzen spielen sich im Kopf ab

Hört man Trainerlegende Renato Canova sprechen, so wie ich neulich im Rahmen eines Podcasts, dann prägt sich eines ganz besonders ein – dass sich Grenzen im Kopf abspielen und man etwas nicht schaffen kann, wenn man daran zweifelt, ob es geht. Das sprunghafte Vorstoßen vieler Läufer bis weit unter 2:10 Stunden sei deshalb passiert, so sagt er ebenfalls in diesem Podcast, weil einer voran ging und zeigte, dass das geht. Und genauso verhält es sich mit dem Durchbrechen der 2-Stunden-Marke auf den Marathon, was viele teilweise bis zum heutigen Tag für unmöglich hielten. Nun – unmöglich war und ist – nichts!

2:00:35

Am 8. Oktober lief ein kenianischer Läufer nach 2:00:35 über die Ziellinie beim Chicago Marathon und unterbot den vorherigen Weltrekord um 34 Sekunden. Und nein – es war nicht Eliud Kipchoge, sondern ein 23-jähriger bis dato völlig unbekannter Landsmann von ihm – Kelvin Kiptum. Und spätestens nach diesem Lauf werden alle, die das gesehen haben, gewiss nicht mehr daran zweifeln, dass die 2-Stunden-Marke fallen wird, wahrscheinlich in den nächsten Jahren, wenn man mich fragen würde. Das ist etwas, was man bis quasi gestern für unmöglich hielt. Klar, Eliud Kipchoge schaffte das schon, in Wien unter Laborbedingungen, weshalb diese Leistung auch nicht als Weltrekord anerkannt wird. Die Marke wird aber auch so fallen, bei einem regulären Rennen auf der Straße. Sie wird niedergerissen werden. Nicht mehr von Kiptum, gewiss, aber ganz sicher von einem anderen jungen Mann aus Kenia, den heute noch niemand kennt. Nun – wie ist das möglich?

Es bedarf jenen, die vorangehen

Ich fange mal etwas anders an. Es ist nicht lange her, im Jahr 2022 war das, da erschienen gleich drei Athleten beim Ironman in Hawaii und pulverisierten dort sämtliche bis dato aufgestellten Rekorde. Der Norweger Gustav Iden, zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt, schaffte eine 7:40:24. Sein Landsmann Kristian Blumenfelt, zwei Jahre älter, kam nach 7:43:23 ins Ziel und der Franzose Sam Laidlow, mit 24 der Jüngste der drei, nach 7:42:24. Zum Vergleich: Jan Frodeno lief seine Bestzeit in Hawaii im Jahr 2019 in einer Zeit von 7:51:13 im Alter von 38 Jahren. Alle drei dieser Jungs waren um Lichtjahre besser als der Altmeister. Und als hätte sich hier ein Knoten gelöst, stellte der Däne Magnus Ditlev 2023 bei der Challenge Roth die Ironman Weltbestzeit von 7:24:40 auf, da war er 24 Jahre alt. Will heißen. Da steht jemand jahrelang unangefochten an der Weltspitze, und urplötzlich taucht eine Armee junger Athleten auf und radiert alles aus, was an Rekorden rumliegt.

Und genauso ist es hier. Bis gefühlt gestern gab es nur einen, einen einzigen, der das Maß aller Dinge beim Marathon war, Eliud Kipchoge. Wenn ich an Kipchoge denke, dann auch den einen Satz von ihm, den die Welt immer mit ihm verbinden wird: NO HUMAN IS LIMITED. Wenn, so dachte ich, so dachten alle, wenn jemand die 2 Stunden in einem Marathon-Rennen unterbieten würde, dann er. Kipchoge machte lange das, was gute Marathonläufer so machten, nämlich lange Zeit nicht Marathon laufen. Mit 28 wechselte er den Belag von Tartan auf Asphalt, der Rest ist Geschichte. Heute ist er 39 Jahre alt und wenn man seine vergangenen Rennen verfolgt hat, dann hat man langsam aber sicher den Eindruck, dass es das war. Das Alter zollt Tribut, so ist das nun mal, auch bei einem Athleten wie ihm. Und dennoch, wer den beeindruckenden Film THE LAST MILESTONE gesehen hat, sieht wie er über die Linie läuft mit diesem Blick in die Kamera: SEHT HER, NICHTS IST UNMÖGLICH, NICHTS! Dann mindert das nicht im geringsten seinen Glanz. Auch wenn er es wohl nicht sein wird, der die 2-Stunden-Geschichte schreiben wird. Er war der Wegbereiter, und das ist das eigentlich Wichtige. Denn er war es, der nie daran zweifelte, dass es geht. 

Kelvin Kipum

Und nun tauchte quasi aus dem Nichts dieser Kelvin Kiptum auf, der in Nullkommanichts alles außer Kraft setzte, was man über Marathon zu wissen glaubte und den Ruhm eines Kipchoges im Handumdrehen übertraf. Der Junge war gerade mal 23 Jahre jung, in diesem Alter lief Kipchoge noch lange fünf Jahre Kurzdistanzen. Denn diese These hielt wie Granit. Ein guter Marathonläufer, so die gängige Meinung im Prinzip bis heute, wurde man über einen langen Zeitraum, über den man sich sukzessve steigerte. Nicht so Kiptum, er lief quasi sofort Marathon. Bei seinem Debüt über 42K im Dezember 2022 siegte er beim Valencia Marathon in der viertschnellsten Zeit in der Geschichte der Menschheit und war zugleich einer von drei Menschen auf der Welt, der den Marathon schneller laufen konnte als 2:02:00. Sein Debut, es war das schnellste aller Zeiten. Auch den zweiten Marathon lief er unter 2:02:00, in London war das – wie in Valencia Streckenrekord. Beachtlich dabei war on top, dass er die zweite Hälfte in 59:45 lief, schnellster Halbmarathon-Spilit bei einem Marathon – EVER. Nebenbei war es das erste Mal in der Geschichte, dass jemand die zweite Hälfte eines Marathons unter einer Stunde lief. Der Rest ist Geschichte. Im Oktober 2023 lief er beim Chicago Marathon den Weltrekord mit 02:00:35 und nach Jahren der Dominanz eines Kipchoges stand auf einmal ein neuer Stern am Himmel.

Warum aber war Kiptum so gut

Erstens: Wie Renato Canova schon ganz richtig sagt. Erfolg ist nicht zuletzt eine Kopfsache. Wir hatten es hier mit einem Athleten zu tun, der daran glaubte, der beste Marathonläufer der Welt sein zu können. Zweitens: Erheblicher Wandel in vielen Dingen generell auf der Welt geschieht manchmal nur, wenn man das STATE OF THE ART, also das, was gang und gäbe ist, hinterfragt, damit bricht und einen ganz anderen Weg einschlägt. Eines hab ich schon genannt, nämlich dass Kiptum sehr früh auf Asphalt ging. Bereits als Teenager lief er den Halbmarathon unter einer Stunde. Also in einem Alter, in dem andere Athleten Runden auf der Tartanbahn ziehen, bis sie mit über 30 auf die Straße gehen. Mit dieser Praxis brach er also komplett. Logischerweise kommt dann Faktor zwei ins Spiel, das Alter beim Marathon. Kiptum war 23 Jahre alt bei seinem Weltrekord. Kipchoge war bei seiner Bestzeit in Berlin im Jahr 2022 satte 38 Jahre alt. Man mag sich kaum vorstellen, was da noch hätte kommen können. Der Mann war quasi noch ein Junge und stand jetzt schon am Zenit, und die goldenen Marathonjahre lagen noch weit in der Zukunft. Und das dritte, was sofort auffällt, ist das Pensum, was der Mann lief. Gemäß meinen Recherchen (Quelle) lief Kiptum nach Aussagen seines Trainers bis zu 300 Wochenkilometer, das lag um Lichtjahre über Kipchoges Pensum, das gemäß gleicher Quelle bei maximal 220 Kilometern liegt. Das ist ein Pensum, was nicht einmal Elite-Ultraläufer laufen, mehr als ein Marathon pro Tag. Und least but not least. Wir hatten es bei Kiptum wohl mit einem Ausnahmetalent zu tun, mit einem einzigen aus einer Generation. In einem kürzlich gehörten Podcast wurde gesagt, Kiptum sei mit dem Talent eines Usein Bolt gesegnet. Eines wäre gewiss gewesen. Es hätte alles passieren können, in beide Richtungen. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass jemand wie er mit der Bereitschaft, sich so hart zu schinden, die Zwei-Stunden-Marke geknackt hätte. Ganz besonders wenn man bedenkt, dass sein Weltrekord in Chicago auf einer guten, aber nicht idealen Strecke stattfand. Hätte man ihm Berlin gegeben und ein oder zwei Jahre, ich bin mir sicher, er hätte es geschafft. Doch nun kam alles anders. Kiptum ist tot, hinterlässt eine Familie mit Kindern, und das überwiegt alles. Was bleiben wird von Kiptum, ist ganz sicher seine Leidenschaft, sein Ehrgeiz und letztlich sein Beweis, dass alles geht, wenn man nur hart genug dafür arbeitet. Genau diese Einstellung hat die Kraft, die nächste Generation Läufer zu inspirieren und neue Sterne hervorzubringen.

Meinen nächsten Longrun werde ich dir widmen, Kiptum. Wenn es hart wird bei meinem nächsten Marathon, dann werde ich an dich denken und mich daran erinnern, dass alles möglich ist, wenn man mit Passion, mit Leidenschaft an die Grenzen geht. Ich denke, das hast du der Welt gezeigt, und das bleibt für immer. Ruhe in Frieden, Champion!

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