Dreißiger – da sein
Es gibt da dieses wundervolle Buch Pilgrim at Tinker Creek von Annie Dillard, auf das ich wiederum über ein Buch von T.C. Boyle gestoßen bin. Sie beschreibt darin ihre Naturbeobachtungen während eines Sommers, den Sie in einem Haus an einem Fluss verbringt. Das Fantastische daran ist, dass die Autorin uns klar macht, dass sich die Wunder dieser Welt zu jeder Zeit unentwegt abspielen, wenn wir nur die Augen aufmachen und hinsehen. Die allermeisten von uns sehen nicht hin, niemals, vermuten die Magie stets irgendwo anders, aber niemals hier. Da ist ein anderes Buch, an das ich gerade denke. Es heißt Running Buddha und ist von einem Mönch geschrieben, der Marathons läuft. Nun geht es in dem Buch nicht um Laufen im eigentlichen Sinne, sondern um das Laufen in Bezug auf die Meditation – das alltägliche Geschäft eines Buddhisten – und damit um die Übung von Achtsamkeit in den Dingen, die wir tun. Laufen interpretiert der Autor als etwas, dass ganz nah dran ist an Meditation (bzw. nah dran sein kann) und dazu beitragen kann, unseren Weg zum Glück zu finden. Vorausgesetzt, wir tun dies achtsam mit einem Blick auf uns und unsere Umwelt. Auch hier geht es also ums Hinsehen.
Letztes Wochenende in der Pfalz ging ich los für einen Dreißiger in den Wald. Ich lief eine Strecke, die ich lange laufen wollte, aber irgendwie nie dazu gekommen bin. Weil es ja immer etwas Wichtigeres zu tun gibt, nicht wahr? Über Wiesen, Felder und Wege gelangte ich in den dichten Wald und dann steil hinauf, immer höher. Es regnete, es war windig, aber dennoch war ich da, ganz allein. Dieser Weg, den ich da lief, ist bekannt für die vielen Sandsteinfelsen, die man dort antrifft, und in der Tat, einer nach dem anderen ragte aus dem dichten Grün in die Höhe. Ich musste aufpassen auf den nassen Trail, der mal breit, mal ganz schmal war und immerzu rutschig. Hier und da wurde ich mit einem Ausblick belohnt, aber dann kam ich wirklich zu einer Stelle, die selbst unter den Pfälzer-Wald-Killer-Blicken hervorragt. Ein Felsen ragte über den Wald hinweg und fiel dort senkrecht bestimmt 100 Meter in den Abgrund. Weiter unter mir die Baumkronen, ich darüber, und im Hintergrund die Topografie des von Hügeln definierten Pfälzers Waldes, der nicht endete. Ich war da, war hier, genau jetzt. Und ich betrachtete das hier vor mir. nicht durch die Linse meiner Kamera, sondern zehn Minuten lang mit meinen eigenen Augen. Und das da, was ich sah, es war, es ist ein Wunder, das eigentlich nicht zu fassen ist.
Ein Wunder war auch der Morgen danach, an dem ich einfach nicht anders konnte, meiner müden Beine zum Trotz, als nochmal durch den Wald zu laufen. Und als die Welt gerade erwachte, da tauchte die Sonne diesen kleinen Ort in goldenes Licht. Und ich, ich war da. Das Laufen, vor allen Dingen die “Dreißiger” bringen mich immer wieder an solche Orte. Und auch wenn sie es nicht tun, dann ist so ein Lauf dennoch immer eine Art Auseinandersetzung mit der eigenen Gedankenwelt, die Raum bekommt. Die Sinne werden geschärft für scheinbar banale Details, die aus einer anderen Perspektive betrachtet alles andere sind als banal. Und wie an jenem Aussichtpunkt kommt es darauf an, ob wir im entscheidenden Moment hinsehen oder ob wir das eben nicht tun.