Immaculée Ilibagiza: Aschenblüte – Ich wurde gerettet, damit ich erzählen kann (Buchrezension)
April 1994, der Völkermord in Ruanda beginnt. In den folgenden drei Monaten werden eine Million Tutsi ermordet. Immaculée Ilibagiza überlebt und findet Worte für unbeschreibliches Leid.
„Nach den Geschehnissen in Nazi-Deutschland hatten die großen mächtigen Länder geschworen: Nie wieder! Doch hier saßen wir, sechs harmlose Frauen und Mädchen, im Dunkeln zusammengepfercht, zur Exekution freigegeben, weil wir als Tutsi geboren waren. Wie hatte die Geschichte es geschafft, sich zu wiederholen?“ Immaculée sitzt in einem winzigen Toilettenraum. Sie kann sich kaum bewegen, kaum atmen, denn sie teilt sich das Versteck mit sieben weiteren Frauen. Mit ihren Leidensgenossinnen hat sie eines gemeinsam, sie ist eine ‘Tutsi’, und diese Tatsache kommt in diesen Tagen einem Todesurteil gleich. Von draußen vernimmt sie die Stimmen von Bekannten, Nachbarn, von Freunden: „Tötet, sie, tötet sie alle.“
Geschichtlicher Hintergrund in Kürze
Der Hass vieler Hutu gegen die herrschende Schicht, gegen die Tutsi-Minderheit , reicht weit zurück. Von den deutschen Kolonialherren und den folgenden Belgiern werden Sie als stärkere Rasse angesehen und als Machtträger etabliert. Mit dem Ende der Kolonialherrschaft kehren sich die Verhältnisse um. Hunderttausende Tutsi fliehen in der Folge von Gewaltausbrüchen und es kommt zu verstärktem Hass gegen die Verbliebenen. 1990 kommt es Bürgerkrieg. Immer wieder fällt die Tutsi-Rebellenarmee Ruandische Patriotische Front ” von Uganda aus ins Land ein. Der Hass eskaliert. Unter den Hutu bilden sich radikale Truppen wie die Interahamwe , bestehend aus vielen unter Alkohol und Drogen stehenden Straßenkindern, aber auch ganz normalen Bürgern. Als 1994 Präsident Habyarimana getötet wird, kippt das Fass über und es kommt zum Genozid. Selbst im Radio wird zum Mord gegen Tutsi aufgerufen.
Zu spät
Immaculée Ilibagiza malt mit ihren Erlebnissen ein persönliches Bild von den Geschehnissen. Sie erzählt von der Diskriminierung in der Schule. Vom Klassenlehrer, der am Morgen alle Tutsi zum Aufstehen auffordert. Vom erschwerten Zugang zur Universität, selbst für Hochbegabte wie Sie. Von ihrer ersten Begegnung mit der Interahamwe auf dem Weg nach Kigali , die vor ihren Augen einer Frau die Kleider vom Leib reißen. Von der Radiopropaganda, der Stimme, die ständig “Macht für die Hutu” flüstert, so abstrus, dass sie darüber lachen muss. Sie erzählt von Angst, von der Gewalt auf der Straße, die immer mehr an Intensität gewinnt. Immaculée’s älterer Bruder Demascene ahnt das Schlimmste und versucht Vater Leonard zur Flucht über der Kivu-See zu überreden. Dieser aber verneint, oft habe man solche Phasen der Gewalt überstanden. Als kurz darauf der Präsident ermordet wird, ist eine Flucht unmöglich.
Die Interahamwe
Von nun an herrscht die Interahamwe in den Straßen, mit Macheten bewaffnet, mordend. Systematisch werden Todeslisten abgearbeitet. Viele Tutsi aus der Nachbarschaft suchen Leonard auf, als Lehrer und Wohltäter ruht alle Hoffnung auf ihm. Doch lange dauert es nicht, und die Mörder sammeln sich vor dem Haus. Leonard, mit großen Sorgen um seine einzige Tochter, schickt Immaculée zu einem befreundeten Hutu, Pastor Murinzi, wo sie um Hilfe bitten soll. Dieser versteckt sie zusammen mit sieben weiteren Frauen in einem winzigen Toilettenraum, und nicht einmal seine eigene Familie weiß von deren Aufenthalt im Haus. Der Raum ist so eng, das jede Bewegung schmerzt, die Luft so schlecht, dass das Atmen schwer fällt. Jeder kleine Laut könnte den Tod bedeuten. Aus Tagen werden Wochen und aus Wochen Monate, nur sporadisch versorgt sie der Pastor mit Essen, Wasser, Neuigkeiten, und riskiert dabei sein Leben und das seiner Familie. Immaculée betet, betet ganze Tage lang, betet sich in Trance, nur so kann sie die Situation ertragen. Die Ungewissheit, was aus ihrer Familie geworden ist, ist für sie unerträglich. Mehrmals durchsuchen die Killertrupps das Haus, rufen nach ihr, doch ihr Einfall, die Tür zu ihrem Versteck mit einem Schrank zu kaschieren, erweist sich als rettende Idee.
Menschen, die in bösen Zeiten Gutes tun
Dieses Buch ist ein Zeugnis eines der schlimmsten Verbrechen der jüngeren Geschichte. Ein Zeugnis von Zeiten, in denen das Böse vom Menschen besitzergreift und auch vom kompletten Versagen der gesamten westlichen Welt. Aber auch ein Zeugnis von Menschen, die in bösen Zeiten Gutes tun, vom Sieg der Menschlichkeit gegen das Böse. Immaculée Ilibagiza stellt sich der Herausforderung und ruft ihre Erinnerungen an die Zeit des Völkermords wach, was ihr eindrucksvoll gelingt. Nackte Gewalt, Angst, aber auch Hoffnung werden förmlich spürbar. Der geschichtliche Kontext des Genozids ist nicht primäres Thema des Buches. Vielmehr ist es, wie so oft, das Schicksal eines Einzelnen, was eine Tragödie wie diese erst begreifbar macht.
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Ein Kommentar
Gartenmann
Es ist gut, dass solche Bücher geschrieben werden. Und es ist gut, dass Du es hier vorstellst. Unsere Medien sind leider auf diversen Augen mehr als blind. Um so wichtiger sind solche Artikel!