Der Mann aus dem Wohnwagen
Eine Kurzgeschichte über eine ungewöhnliche Begegnung – von MaSan.
Der Mann war tot. Von weitem schon sah ich die rote Friedhofskerze auf den Stufen des Trailers. Als ich näher herantrat, sah ich, dass die Kerze einen Zettel beschwerte, auf dem geschrieben stand: „R.I.P“, dann sein Name, den ich bereits vergessen hatte und „wir werden dich vermissen“. Der Trailer stand in einer abschüssigen Straße, die zur einen Seite an eine Schrebergartenkolonie grenzte, zur anderen an eine hohe Mauer, hinter der sich ein alter Friedhof verbargt. Sie führte von meinem Viertel hinauf zum alten stillgelegten Flughafen, den ich so liebte und wo ich jede Woche joggen ging. Manchmal wählte ich auch einen anderen Weg für meine Laufstrecke, meistens aber diese kleine friedliche Straße, wo einst dieser Mann lebte, vor dessen Trailer nun diese Kerze stand. Ein anderer Grund, weshalb ich immer diese Straße wählte, also neben der Tatsache, dass die Straße so friedlich war, waren die vielen großen anderen Trailer, die hier standen. Nicht nur der Wohnwagen dieses Mannes stand dort, sondern viele riesengroßen Trucks. Einer war riesengroß mit einem Michelin Männchen auf dem Dach. Ein anderer hatte Räder so groß wie ein normaler Wagen. In der Windschutzscheibe eines Trucks lag ein Zeitungsartikel: „Von Augsburg bis nach Tibet“, mit einem Bild des eben jenen Trucks, auf den ich gerade blickte.
Die Trailer, die hier standen, waren nicht einfach hier geparkt, sondern es lebten Menschen darin. Die Fenster waren mit Blumen dekoriert und wenn einmal, also ich vorbeijoggte, eine Tür offenstand, dann konnte ich Leute bei Kochen im Inneren beobachten. Bei guten Wetter bauten sie sich außen Stühle auf und unterhielten sich fröhlich in der Abendsonne. Die Menschen, die hier leben, sahen allesamt aus wie Aussteiger. Rastafaris, tätowiert, stets etwas abgerissen und immer Hunde im Gefolge. Oft konnte man die Polizei hier sehen und ich dachte, es sein bestimmt illegal, hier zu wohnen, einfach am Wegesrand im Auto. Angst, hier durchzulaufen, hatte ich nie, denn stets hielt ich die Leute für sehr friedfertig, zudem beachteten sie mich nie. Auch die Hunde zeigten nicht das geringste Interesse für mich. Zudem vermutete ich, dass die Menschen hier nur zeitweise wohnten und dann wieder aufbrachen mit ihren Monsterkolossen und in die große weite Welt fuhren. Ob dem wirklich so war, ich weiß es bis heute nicht, aber jedenfalls stellte ich mir das vor. Ja, ich beneidete diese Leute für ihre Freiheit, die sie am Rande der Gesellschaft hatten. In ihr lag etwas Reines, das ich sehr bewunderte und wofür in mir eine Sehnsucht innewohnte.
Der Trailer des Mannes aber, der nun tot war, fuhr garantiert nirgendwo mehr hin. Es war der einzige Wagen, der nie verschwand, sondern immer dastand. Der Mann hatte zwei Hunde – die Hunde dieser Leute sind immer schwarz – und war immer betrunken. Einmal sah ich ihn, es war an einem Sommertag – mit Unterhosen die Straße entlangtorkeln mit einer Flasche Whisky in der Hand, die noch zu einem Drittel voll war. Ich erschrak bei dem Anblick, und nicht nur ich. Viele Leute liefen an ihm vorbei, auch Kinder, und er stand da mit Unterhosen, um bald darauf wieder in seinen Trailer zu verschwinden, um wohl ins Bett zu fallen um irgendwann, wer weiß wann, vielleicht mitten in der Nacht wieder aufzuwachen, möglicherweise sogar erst am nächsten Tag. Ich weiß nicht, was ich dachte, als ich ihn zum erstem Mal so sah, aber gewiss ekelte er mich an. Unrasiert, verschwitz, fast nackt, ungepflegt, betrunken, widerlich. Doch wenn ich nun nachdenke, kann ich mich daran erinnern, dass seine Gesichtszüge sonderbar friedlich waren, verzweifelt vielleicht, aber in jedem Fall sehr friedlich. Ich war mir auch sicher, dass der Mann hier alleine lebte, dass er keine Freunde hatte, wohl nicht einmal die Leute in den anderen Trailern, und dass es für ihn keinerlei Rückweg in die Gesellschaft gab. Ich dachte, dieser Mann hat sich ganz und gar aufgegeben. Das ging mir durch den Kopf, als ich nun vor dieser Kerze stand, die sachte im Wind flackerte. Nachdenklich lief ich noch ein paar Schritte gedankenverloren, bevor ich weiterjoggte.
Es wunderte mich nicht, dass der Mann tot war. Ich glaubte sogar, dass es der Plan gewesen sein könnte. Es gab da diesen Film mit Nicolas Cage, in dem er seinen Job kündigt, nach Las Vegas geht, um sich tot zu saufen. Dabei lernt er eine Prostituierte kennen, ihrerseits verloren im Sumpf der Gosse. Sie weiß, dass sie ihn nicht abhalten kann von seinem bitteren Vorhaben, und hält ihm seine Hand auf dem Weg in den Untergang. So wirkte dieser Mann auf mich, also im Nachhinein. Ohne jegliches Interesse an der Gesellschaft, fernab davon, sich dem Tod nähernd ohne Blick zurück. Allein am Rande unserer Welt, sterbend, ohne dass irgendeiner davon Notiz nehmen würde. Deswegen lief ich auch nicht mehr, weil ich nun darüber nachdachte, über den Tod, meinen eigenen. Wieso, ich wußte es nicht, aber es war so präsent. Auch ich würde sterben irgendwann, und die Welt würde keine Notiz von mir nehmen. Sie würde sich weiterdrehen, als wäre nichts geschehen. Unablässig versuchte ich Tag für Tag , mich in dieser Gesellschaft zu beweisen, zu behaupten. Um meine Kreuzberger Wohnung zu halten, Geld zu verdienen, um zu konsumieren, zu reisen, zu feiern, und um, ja wenn ich wirklich ehrlich sagen müsste, um integriert zu sein in dieses Hamsterrad, die Berufswelt, diese Gesellschaft. Und am Ende wäre es so, als sei nicht passiert, und damit würde mein Ende genau dem ähneln wie jenem dieses heruntergekommenen, friedlichen Mannes, der nun tot war.
Natürlich war das kein Vergleich, so unterschiedlich unser beider Existenzen waren. Ich glücklich verheiratet, viele Freunde, Familie, Kinder und einer bezaubernden Frau. Und dort dieser Mann, alleine, verwahrlost, einsam gewiss, und mitten in der Abwärtsspirale. Doch im Tod, das sagte mir diese Kerze in diesem Moment, würden wir beide gleich sein. Hatte mir dieser Mann vielleicht etwas voraus, etwas, das jeder übersah? Woher kam dieses zufriedene Lächeln? Arbeiten, diese Schufterei von morgens bis abends, dieses Anpassen, Smalltalk, dieser tägliche Wahnsinn. Da war nun dieser Mann, und der sagte, „Fuck it all“, und in diesem Sinne hatte der Mann mir und allen anderen irgendetwas voraus, was ich nicht greifen konnte. Es bedürfe doch Mut, Courage, sich des Endes gewiss zu sein, in diesem Wohnwagen zu wohnen und sich wahrscheinlich schon früh morgen einen tiefen Zug aus einer Flasche Whiskey zu genehmigen, oder etwa nicht?. Egal, was die Uhr sagen würde, egal, welcher Tag gerade sei, „fuck it all.”
Seitdem sind viele Tage vergangen. Noch immer laufe ich auf dieser Straße hinauf zum Flughafen, freue mich des Lebens, atme ein und aus. Der Wohnwagen steht immer noch, doch die Kerze und der Zettel sind längst nicht mehr da. Ich bleibe nicht mehr stehen, denke nicht mehr groß darüber nach. So, wie die Welt nicht mehr nachdenkt über diesen Mann. Viele andere Wagen sind hinzugekommen, andere verschwunden, doch dieser Wohnwagen ist geblieben. Irgendwann wird sich wohl irgendjemand diesem annehmen, ohne wissen, dass hier einmal ein Mann wohnte, der am Alkohol starb, mit dieser Gewissheit in den Augen, wie Nicolas Cage in diesem Film. Ich laufe, setze einen Fuß nach dem anderen auf den Asphalt, atme tief ein und aus, ein und aus.
By MaSan
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