Laufen: Dinge passieren, ob wir hinsehen oder nicht – ein etwas anderer Laufbericht
„Dinge geschehen, ob wir hinsehen oder nicht“, schreibt Annie Dillard in dem ganz fantastischen Buch Pilgrim at Tinker Creek. Ich weiß genau, was sie damit meint – weil ich laufe!
Am 21. Juni entschloss ich mich zu später Stunde zu einem langen Mittsommernachtslauf. Ich schnürte meine Laufschuhe, betätigte meine Apex 2 und trat hinaus auf den Asphalt. Richtung Süden lief ich hinaus aus der Stadt, bog ein in den Feldweg und spürte wieder diese Freude, die mich immer überkommt, wenn das Häusermeer diesem letzten Rest Natur weicht, den wir übriggelassen haben. Die Natur – das ist etwas, was ich liebe an dieser neuen, alten Heimat. Die Umgebung um Landau herum ist geprägt von sanften Hügeln, auf denen sich die Weinreben entlang schlängeln. Früher als Kind habe ich es geliebt, aus dem Autofenster hinaus zu blicken in die Lücken zwischen den Rebstöcken, wo eine Lücke die andere in Sekundenbruchteilen ablöste. Das Markante an der Landschaft hier ist aber, dass diese Hügellandschaft krass abgelöst wird durch den sogenannten Hardtrand, der steil und dicht bewaldet in die Höhe hinaufragt und sich bis weit nach Frankreich hinein erstreckt, wo er zu den Vogesen wird. Blickt man von Landau aus gen Westen, dann sieht man einen Berg neben dem anderen, dominiert von der Spitze des Kalmit mit immerhin 670 Metern.
Wann immer ich kann, wann immer mein Leben drei Stunden hergeben, laufe ich hinein in diese Berge und tauche ein in eine Wildnis, die sich zu Teilen wirklich so nennen darf, wie ich finde. Bei einem Longrun am Wochenende kommen innerhalb zwei Stunden in diesem Terrain stets knappe 1.000 Höhenmeter zusammen, und das ist nun wirklich nicht nichts, wenn ich bedenke, dass ich bei einem Longrun im Umland Berlins nach 35K vielleicht auf 100 Höhenmeter kam, wenn überhaupt. Den Hardtrand jedenfalls, diesen Beginn der Vogesen, ich sehe ihn immer, bei jedem Lauf, so auch an diesem Abend.
Neben mir fließt ein Bach entlang des Weges und strahlt seine Kühle in die laue Sommernacht hinein. Die anbrechende Nacht legt bereits ihre Arme um die Hügel, auf denen bereits das goldene, hohe Korn steht und die Reben im dichten Grün, bis sie im Herbst alles in Farbe tauchen. Diese lauen Sommernächte, sie sind voller Magie, voller Fülle. Sie sind in jeglicher Hinsicht zu perfekt, um wahr zu sein und selbst wenn man sich bemüht, gelingt es nur, einen Bruchteil ihrer Wunder wahrzunehmen, weil diese allumfassend überall gleichzeitig sind. Dann geht es hinauf in Richtung kleine Kalmit. Jenen Hügel, auf dem eine kleine, weiße Kapelle thront als letzte Bastion vor dem Hardtrand mit ihrer großen Schwester steil aufragend aus dem Wälder-Meer im Hintergrund. Es ist bereits richtig dunkel und als ich dort hinauflaufe, plötzlich umgeben von hohem Gras und Bäumen, welche die Dunkelheit verstärken und fast absolut machen, da tauchen sie auf.
Erst eins, dann zwei, dann immer mehr – Glühwürmchen. Das letzte Mal das ich diese Wesen aus einer fern liegenden Feenwelt erblickte, es ist Jahrzehnte her, ganz sicher. Ich kann mich jetzt noch erinnern und sie durch meine Kindesaugen sehen. Wo wart ihr denn, ihr kleinen Zauberwesen? Seid ihr echt, gibt es euch wirklich? Jetzt, ganz unverhofft sind sie hier, umgeben mich in der Dunkelheit, tanzen um mich herum. Das kleine Dorf, durch das ich gerade noch gelaufen bin vor der Anhöhe, es schläft bereits. Ich bin der einzige Mensch, der das sieht, der das erlebt. „Dinge geschehen, ob wir hinsehen oder nicht“, das ist ein Satz, der mich prägt aus einem Buch, das ich liebe. Die Zeit vergeht – rasend schnell. Und ehe man sich versieht, ist sie vorbei. Man muss nicht achtzig sein, um das zu begreifen. Diese zu nutzen, so gut es geht, ist deshalb eine universelle Wahrheit, die wir nun wahrnehmen oder nicht. Und dazu zählt für mich, mich den Fesseln des alltäglichen Gedankenkarussells voller Nichtigkeiten zu entreißen und so wie Annie Dillard einfach hinzusehen, was so passiert, mehr nicht. Denn was da passiert, es ist ein Wunder.
Ich kann nachvollziehen in gewisser Hinsicht, dass es jenen Leser gibt, der in Erwartung eines Lauftextes stutzt beim Lesen dieser Zeilen, wenn er es bis hierhin überhaupt geschafft hat. Es sei im verziehen. Für mich als durchaus emotionalen Menschen gehört es irgendwo zur Pflicht, hinzusehen, was passiert. Und beim Laufen werde ich, jedes Mal aufs Neue, im Hinsehen geschult. Wenn ich eintrete in den Wald, die Gurte meines Rucksacks spüre, meine Trailstöcke in die Erde steche und mich in die Höhe schraube, diese kühle, Waldluft einatme, dann werde ich zu einem anderen Menschen. Nicht primär zu einem trainierenden Athleten, sondern zu einem neutralen Beobachter einer mir irgendwo fremden Welt, in der ich mich dennoch aus mir unerklärlichen Gründen so vertraut fühle. Und ich glaube, die Art und Weise, wie ich mich durch diese Welt bewege, in diesem Moment, hat sehr viel damit zu tun. Was heißt ich glaube, ich weiß es, spüre es.
Ich unterhalte mich dabei nicht, ich denke dabei zuweilen auch nicht, sondern ich bin einfach nur da und jeder auch noch so hartnäckiger Gedanke vergeht. Und manch einer davon war vermeintlich wichtig und ist es jetzt nicht mehr. Das ist so, ist immer so in jenen Momenten, in denen man für einen Augenblick sich selbst im großen Ganzen erkennt. Und meine auf diese Art und Weise pure, freigelegte Seele erkennt die Schönheit des Momentes einfach an, ganz ohne Wertung. Der steil aufragende Singletrail gesäumt vom Fingerhut, die einsam stehende Burg, der Blick von einem Felsen, ein flüchtendes Reh, der sich vom Baum abstoßende Falke, dieser Schwarm Krähen, dieses mächtige Wildschwein, dieser nicht aufhörende Regen, der Hagel, der Sturm, der Schnee, das goldene Laub. Die Katze, der Igel, den ich so treffe so spät am Abend an der immer gleichen Stelle. Was habe ich alles erlebt beim Laufen.
Erlebnisse, die banal erscheinen, aber doch eingebrannt sind in mein Gedächtnis auf vorderer Ebene aus was weiß ich welchen Gründen. Ich weiß es nicht und dennoch vermute ich, dass es etwas mit dem Laufen zu tun hat. Vielleicht weil wir, wie Christopher McDougall schreibt, zum Laufen geboren sind, wir leben, weil wir laufen. Auch das mag absurd klingen, aber wer kann das bestreiten? Und vielleicht ist es wirklich so, dass beim Laufen eine Verbindung entsteht an einem verbleibenden, seidenen Faden und der Blick offen gelegt wird auf den Beginn von uns. Den Blick auf eine stets unglaublich lange Strecken laufende, nie sesshaft werdende Spezies, welche ihren Siegeszug der Tatsache verdankt, dass sie nie müde werdend länger und ausdauernder laufen kann als jede andere Spezies auf diesem Planeten. Laufen ist, wie ich selbst einmal schrieb, viel mehr als ein Sport. Es ist ein Lifestyle, eine Wahl, ein anderes, neues Leben.