Philipp Pflieger: Laufen am Limit (Buchrezension)
Ich wohne seit nunmehr zehn Jahren in Berlin und fast jedes Jahr zieht es mich an einem Herbstwochenende früh aus dem Bett an die Seitenlinie des Berlin Marathons, um die großen Stars der Marathonläufer zu sehen – wie Bekele oder Kipchoge. Wenn die absolute Spitze vorbei ist, dauert es zunächst ein bisschen, und dann kommt irgendwann der beste deutsche Läufer angesaust. Ganz oft war das in den letzten Jahren Philipp Pflieger. Ohne viel über ihn zu wissen, war und bin ich erstaunt über die Kontinuität, mit der er vorne mitläuft, Jahr für Jahr. Und deshalb interessierte mich sein Buch LAUFEN AM LIMIT immens, weil es von einem aktuellen Eliteläufer selbst geschrieben wurde. Pfliegers Geschichte bietet einen faszinierenden Blick hinter die Kulissen der Profiläufer und letztlich auch in den Kopf eines Menschen, der trotz aller Widerstände immer an seine Träume geglaubt hat.
„Ganz sicher ist nur eines: Ich werde immer laufen.“
Pfliegers Weg in den Profisport
1987 in Sindelfingen in eine Sportlerfamilie hineingeboren, entwickelt Pflieger schon sehr früh den Antrieb, zielgerichtet zu trainieren und immer schneller zu werden. Seine Prio liegt ganz klar auf dem Sport, für den er die Schule vernachlässigt. Das Abitur schafft er gerade so. Sein großes Ziel, das weiß er schon als Kind, ist die Teilnahme an den olympischen Spielen. Bei ersten Sichtungswettbewerben fällt er zunächst nicht auf, doch das hält ihn genauso wenig auf wie die Schmerzen, die ihn seit seiner Jugend plagen, weil seine Muskulatur dem schnellen Wachstum nicht hinterherkommt. Erfolge kommen schnell über Kurzdistanzen über 3.000 und 5.000 Meter und am Bundeskader ist er bereits nah dran.
„Bereits als Kind gehörte Laufen für mich wie selbstverständlich zum Leben dazu.“
Sein Weg führt ihn 2007 nach Regensburg. Im dortigen Athletenhaus hat er die Möglichkeit, Studium und Sport – er studiert Politik, Medienwissenschaften und Geschichte – zu verbinden. Durch das deutlich strukturiertere Training mittels Leistungsdiagnostik und Physiotherapie und unter der Obhut des Trainers Kurt Ring rückt er in die nationale Spitze auf und wird 2012 Profi. In diesem Jahr wird er Deutscher Meister über 10K mit einer 28:45.
Marathon
Mit dem Ziel Olympia vor Augen und genug Selbstreflexion, kein Jahrhunderttalent zu sein, wird ihm klar, dass er es über 5 oder 10K nicht dorthin schaffen wird, und so nimmt er ab 2013 die Marathondistanz in Angriff. Belächelt er diese Distanz zunächst als jene der zu langsamen Bahnläufer, wird ihm klar, dass es sich bei den 42K um die Königsdisziplin des Laufens handelt. Er beschreibt es damit, dass bei dieser Distanz Tempohärte und Ausdauer zusammenkommen müssen, die Strecke entgegen aller anderen Distanzen niemals im Training läuft und die letzten 12K nicht planbar sind. Sein erster Halbmarathon in 1:04:11 deutet in die richtige Richtung und bestätigt seine Entscheidung.
„Marathon ist der Mount Everest der läuferischen Herausforderungen.“
Sein Debüt in Frankfurt im Jahr 2014 unterschätzt er zunächst maßlos. Ohne Gedanken an Ernährung und lediglich Umfänge trainierend wird das Rennen schwerer als gedacht. Alle Warnsignale ignorierend kollabiert er bei K37. Selbstzweifel folgen. Ist er einer jener, die für den Marathon einfach nicht geschaffen sind? War es eine Fehlentscheidung, dem Sport so viel Platz im Leben zu geben? Und was würde er machen ohne den Sport? Denn – einen Plan B hat er nicht.
2015 startet er in Berlin nach dem Motto ALLES ODER NICHTS. Ohne Erfolgt würde er seine Karriere sofort beenden. Berlin wird einer seiner ganz großen Erfolge und es ist toll, wie er dieses Rennen mit dem Leser teilt. Der Callroom, in dem die Eliteathleten auf den Start warten, das Durchgehen der ganzen Eventualitäten, die einem bei dem Rennen widerfahren können und wie man darauf reagieren könnte, der Umgang mit Druck und Wege, diesen zu kanalisieren, unerklärliche Flow-Zustände, in die man hineinlaufen kann. Mit vor Blut triefenden Socken überquert er in 2:12:50 die Ziellinie und verpasst die Olympianorm um 35 Sekunden, und dennoch würde dieses Ereignis der Höhepunkt seiner sportlichen Karriere sein.
„Manchmal musst du bereit sein, den Schmerz zu umarmen, sonst geht es nicht.“
Olympia
In Berlin ist kein Geringerer ARD-Kommentator als Dieter Baumann, der sich gewaltig über den DLV (Deutscher Leichtathletikverband) aufregt, dem er unterstellt, jungen Athleten wie Pflieger die Chancen zu nehmen. Und hier tut sich ein Thema auf, das Pflieger in seinem Buch detailliert beschreibt und massiv kritisiert. Der DLV nämlich wendete zu dieser Zeit stets Normen an, die weit über internationalem Standard lagen, unter dessen Umständen Pflieger durchaus Olympianorm durchaus bei weitem gehabt hätte. Pflieger hat den Mut, sich mit dem Verband anzulegen. Mit welchem Recht, so schreibt er, legte dieser die Norm von 2:17 auf 2:12:15? Für Pflieger ganz klar: Deutschland möchte stets nur die aussichtsreichsten Athleten bei olympischen Spielen haben, möchte Medaillen. Genau das habe aber seiner Meinung nach nicht mit der Idee von Olympia zu tun, wo es nicht nur um Erfolg, sondern eben auch um Fairness und Völkerverständigung geht. Es offenbart sich hier ein moralischer Zwiespalt zwischen dem, was Sportler investieren und dem, was sie von der Gesellschaft dafür zurückbekommen. Und das ist mit Ausnahme von Fußball in diesem Land entgegen vielen anderen Nationen so gut wie nichts. Pflieger klagt, und er bekommt Recht.
„Es muss auch Sportler geben, die nicht gewinnen, die einfach nur dabei sind und ihr Bestes geben.“
Die Normen fallen für alle Sportler auf internationales Niveau und Pflieger fliegt nach Rio. Auch was er von dort erzählt ist wirklich schockierend. Niemand holt die Marathonläufer am Flughafen ab, niemand vom Verband erwartet sie. Durch einen Stau kommen sie geradeso rechtzeitig zum Rennstart und es reicht gerade mal zum Eintraben. Er läuft eine 2:18:56 und damit auf Rang 55, aber unter welchen Bedingungen? Nichtdestotrotz wird ein Traum für ihn wahr, den er seit der Kindheit verfolgt, und das kann ihm niemand mehr nehmen.
Kritik am Deutschen Sportwesen
Geld zu verdienen ist von Anfang an Thema für Pflieger, der jahrelang von der Hand in den Mund lebt mit gerade mal 500 Euro im Monat, als deutscher Eliteathlet wohlgemerkt. Manche Rennen läuft er nur fürs Preisgeld, das er dringend braucht. Genau hier setzt seine Kritik an. Deutschland ist ein Land, das von seinen Athleten Medaillen einfordert, aber nicht adäquat in diese investiert und diese fallen lässt, wenn sie nicht performen. Genau wie ihm das auch passieren sollte. Für Pflieger ist das ein Widerspruch in sich und absolut ungerecht. Völlig ungleich verhält sich das, so schreibt er, in anderen Ländern. In Japan würden Läufer von Unternehmen eingestellt, bezahlt und für den Sport freigestellt, so dass diese sich ganz auf den Sport konzentrieren könnten, ganz ohne Geldsorgen. Das kann ich als aufmerksamer Beobachter des Berlinmarathons Jahr für Jahr beobachten. Gefühlt sind unter den Top 50 die Hälfte Japaner. Auch in den USA, wo der Breitensport einen hohen Stellenwert habe, würden Sportler schon im Collage intensiv unterstützt. Nicht so in Deutschland. Hier habe ein Athlet keinerlei finanzielle Sicherheit und könne sich aus genau diesem Grund entgegen einem Japaner, einem Amerikaner oder einem Russen nicht zu 100 Prozent auf den Sport konzentrieren. Wettbewerbsverzerrung sei das, schlicht unfair und mitunter ein Grund dafür, warum bei uns die meistens Dropouts vielversprechender Athleten in deren Mitzwanzigern erfolgt, sich diese für den Beruf und gegen den Sport entscheiden. Wie könne es sein, so Pflieger, dass man Namen wir Arne Gabius, lange Jahre jener Mann mit der besten deutschen Marathonzeit, hierzulande nicht kenne? Mich als Leser hat das sehr zu denken gegeben und ich habe das in dieser Form und Tiefe zuvor noch nie gehört.
„Bei Läufern die keine Medaillen bringen, ist es einfacher, sie aufs Abstellgleis zu schieben. Die kennt keiner, die vermisst keiner.“
Seine Diskrepanz mit dem Verband intensiviert sich und schließlich streicht ihn dieser aus dem Bundeskader, was Pflieger ohne Perspektive dastehen lässt. Obwohl er für die EM in Berlin im Jahr 2018 die Normen erfüllt für die 10K, nominiert man in trotzdem nicht.
„Ich brauche das Nationaltrikot nicht, auch wenn ich es sehr gern trage.“
Neue Wege
2017 greift er erneut beim Berlin Marathon an und erlebt eine gewaltige Niederlage. Wir alle kennen die Bilder, als er kollabiert und von einem Mann kurz vor dem Ziel – ein Unbekannter namens Clemens, den Pflieger im Nachhinein aufsuchen wird um sich persönlich zu bedanken – gehalten wird. Im Auto mit seinem Trainer neben ihm bricht er in Tränen aus, Pflieger gewährt uns hier einen tiefen Einblick in sein Seelenleben.
„Wenn dir ein Marathon misslingt, sind alle Erfolge, die du davor hattest, nicht mehr wert.“
War es das? Nein! Aus Pflieger wird nach und nach ein anderer Mensch und ein anderer Sportler. Einer, der die Dinge selbst in die Hand nimmt. Er wendet sich einer Marketingagentur zu, die ihn unter Vertrag nimmt und die Zeiten, in denen er von der Hand in den Mund leben muss, neigen sich dem Ende zu. Wer Pflieger etwas verfolgt, der weiß, dass dieser sich in vielen sozialen Medien selbst vermarktet. Wer das Buch gelesen hat und seine Geschichte, der weiß jetzt auch, warum. Auch seine Haltung zum Wettkampf ändert sich, so sieht er diesen nicht mehr so verbissen, Scheitern verliert für ihn den Schrecken. Er möchte nach wie vor der bestmögliche Läufer sein, schert sich aber nicht mehr um irgendwelche Normen.
„Sei bereit, gib dein bestmögliches und akzeptiere, wenn es nicht reichen sollte.“
Einblicke ins Training
Auch hier erhalten wir als Leser und Läufer tiefe Einblicke. Pflieger schreibt über Trainingsanalyse und Zieldefinitionen, Regeneration, Laufstil und wie wichtig es ist, diesen immer wieder zu prüfen, über Umfänge (Bis zu 200K pro Woche), über die Pace (nicht Puls) als trainingssteuernde Determinante, über die Ausrichtung der Pace an der Laktatschwelle, Koordinations- und Krafttraining gegen Verletzungen, über (selbstfinanzierte) Trainingslager in Kenia und wie so ein kenianisches Fahrtspiel aussieht und über die Ausgestaltung einzelner Trainingseinheiten. Das ist sicherlich für jeden Marathoni absolut wissenswerter Lesestoff, der hier geboten wird. Und dabei gibt er auch viele Tipps an uns Leser. Wie wichtig mentale Vorbereitung ist und den Kopf frei zu haben, auf den Körper zu hören, ideale Trinkmengen und Ernährung, das ideale Wettkampffrühstück, Nahrungsergänzungsmittel, die Annäherung an die Marathondistanz im Training oder die Überwindung der kritischen Phase zwischen K20 und K25 sowie dem bekannten Leistungsloch bei K35, und, und, und.
Fazit
Ich mach das jetzt kurz. Ein GOOD-READ ist dieses Buch für alle Marathonläufer. Allseits informativ und nie langweilig mit jede Menge Mehrwert für jeden ambitionierten Marathoni.
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