Meine Bahn
Eines Tages kam ich an dieser Tartanbahn vorbei, ganz zufällig und lange nachdem wir von Kreuzberg in den Norden Berlins gezogen sind – nach Pankow. Fast nicht weiter als einen Steinwurf von unserer Wohnung entfernt lag diese mitten in einem Wohngebiet. Ich fand das sehr ungewöhnlich. Es war natürlich nicht nur diese Bahn, sondern ein Sportgelände mit zwei Fußballplätzen und einem kleinen Vereinsgebäude. Und einer dieser zwei Fußballplätze – jener, auf dem nur sporadisch mal trainiert wird – war von einer Tartanbahn umgeben.
Ich sah, dass einige Läufer*Innen dort ihre Runden drehten, lief dann um das Gelände herum auf der Suche nach einem Eingang. Ich kam zu einer Drehtür, drehte daran und sie bewegte sich, und schwuppdiwupp war ich drin. Das hört sich so banal an, aber ganz ehrlich: Ich war einfach total baff, dass man dort einfach so rein gehen konnte. Ich ging also in Richtung Bahn und mir wurde allmählich klar, dass das ein öffentlich zugängliches Gelände war und jeder hier, wann immer er oder Sie wollte, hier hineindurfte. Das fiel mir an den Leuten auf, die dort liefen, die alle für sich trainierten. Einen Trainier konnte ich nämlich nirgends ausfindig machen. Das überraschte mich total, denn wo ich ursprünglich herkomme, und auch überall sonst, wo ich war und lebte, da gab es so etwas nicht, also ein frei zugängliches Sportgelände, das man einfach so und ohne Mitgliedschaft betreten darf. Ach nein, das stimmt nicht ganz! Ich lebte einmal in China, ein Jahr davon in Shanghai. Und auch dort fand ich in einem Studentenviertel ein öffentlich betretbares Stadion mit Tartanbahn, wo jeden Abend immens viel los war. Ein wunderbarer Ort war das!
In meiner alten Heimat gab es auch ein Stadion, auch mit einer Bahn. Aber die war eben nicht zugänglich, der Zaun drumherum war immer verriegelt, obwohl dort nie jemand war. Wie gern wäre ich mit den Jungs dort hinein gegangen, wirklich sehr gerne. Das ist so, als wenn man außen an der Bäckerei die Nase gegen die Scheibe drückt, aber kein Geld hat, um sich etwas zu kaufen. Einzig und allein dem Fußball vorbehalten war dieser Ort – wie schade, was für eine Verschwendung! Ich weiß noch, dass wir einmal auf das Gelände gingen, weil die Tür offenstand. Es dauerte nicht lange und wir vernahmen das Gebrüll eines Mannes, dass wir gefälligst abhauen sollen. Verboten, immer alles verboten.
Nach und nach wurde mir klar, dass es viele solche öffentlichen Tartanbahnen in Berlin gibt, eigentlich überall, und dass ganz viele Leute – wirklich außergewöhnlich viele – diese Bahnen aufsuchten, mancher morgens, ein anderer abends, mancher in der Dunkelheit bei Flutlicht. Seitdem ich meine Bahn entdeckt habe, bin ich dort mindestens einmal in der Woche, meistens zwei Mal. Ich liebe diesen Ort, denn die Bahn ist ein Ort der sportlichen Begegnung, man ist so gut wie nie alleine. Nicht dass ich das bräuchte, nein. Aber ich mag es einfach, dass immer irgendwer hier läuft, ob alt oder jung, und Bahnen zieht – wirklich fast immer. Leute kommen hierher, um an sich zu arbeiten, und das gefällt mir. Ich finde auch, dass das viele Leute motiviert, sich sportlich zu betätigen. Nutze ich die Bahn eher für Speed, gibt es dort auch eher nicht so sportliche Leute, die gemeinsam plaudernd ihre Bahnen ziehen, einfach mal eine halbe Stunde, und wieder gehen. Väter bringen ihre Kids mit, Kickboxer trainieren auf dem Rasen, dort machen ein paar Jungs Krafttraining, sogar Speerwerfer habe ich dort schon gesehen. Auf der Bahn existiert ganz einfach dieser Spirit, ein ziemlich cooler, urbaner Vibe. Und auch wenn ich mal keine Lust habe – wenn ich dorthin gehe und sehe, wie andere an sich selbst herum tüfteln, da bin ich immer motiviert, IMMER!
Als Läufer, der ich bin, war mein erstes Betreten der Bahn in Sportschuhen von Skepsis geprägt. Langweilig, kein echtes Laufen, keine Natur, kein Erlebnis für die Sinne, sowas in etwa ging mir so durch den Kopf. Mit dem ersten Schritt merkte ich aber, dass mir das Laufen auf der Bahn total liegt, vor allem, wenn es um schnelles Laufen ging. Das ist auf Tartan fast so wie Schweben, eine völlig hindernisfreie Art der Bewegung. Fortan nutzte ich die Bahn für meine Intervall- und Speed-Einheiten und stellte fest, dass diese auf der Bahn maximal effizient waren und mir einen regelrechten Push gaben auf alle Distanzen. Denn eines ist klar: Wer ambitioniert läuft oder laufen möchte, muss breit trainieren, und dazu gehören Intervalle und Tempoläufe. Macht man das nicht, wird man nicht besser, und das gilt für alle Distanzen, von 5.000 Metern bis hin zum Ultra. Das liegt daran, dass sich durch kurze Abstecher über die anaerobe Schwelle die Laktat-Toleranz verbessert, die VO2 Max noch dazu und auch die Trainingshärte, um nur drei Aspekte zu nennen. Und die Bahn – das ist der perfekte Ort für die Art Laufeinheiten! Denn – Läufe auf der Bahn sind immer gleich. Was ich meine ist, ein Lauf in einer bestimmten Intensität ist exakt vergleichbar mit einem anderen in der gleichen Intensität. Keine Steigung, kein Garnichts. Vergleicht man eine Trainingseinheit mit der anderen, dann kann man Schlüsse daraus ziehen. Wie entwickelt sich meine Schrittfrequenz, wie mein Puls? Ab wann werde ich schwächer bzw. lasse an Geschwindigkeit nach? Passiert etwas, wenn ich andere Schuhe trage? Man feilt an allen Stellschrauben und betätigt man die Richtige, dann merkt man das sofort.
Ein Lauf auf der Bahn macht es möglich, völlig in sich rein zu gehen, im eigenen Körper zu verschwinden und die körpereigenen Systeme exakt zu spüren. Weil es nichts gibt, was einen ablenkt, gar nichts. Alle meine Bestzeiten, mit Ausnahme des Marathons, bin ich auf meiner Bahn gelaufen und habe diese genau hier immer wieder unterboten, um Längen besser als im Wettkampf. Das liegt nicht daran, dass die Bahn einfacher wäre, denn mental ist ein Halbmarathon, also über 50 Runden auf einer Tartanbahn, Schwerstarbeit. Aber nein, das liegt daran, dass ich mich so sehr auf meinen Körper konzentrieren kann, dass ich dieses GANZ NAH, das GENAU DRAUF oder dieses VOLL ÜBER der anaeroben Schwelle in feinsten Nuancen wahrnehme, mit dieser spielen oder sie sogar herausfordern kann. Lässt man sich darauf ein, dann erschließt sich mit der Bahn eine völlig neue Welt des Trainings. Mit jedem Mal kommt Erfahrung hinzu. Erfahrung, die man einbringen kann in den Wettkampf, auf den Trail, wohin auch immer. Man kann zum Beispiel einen schnellen Fünfer oder Zehner unterschiedlich angehen.
- Schnell zu Beginn, vielleicht zu schnell, mittig etwas dämpfend und wieder schnell nach hinten raus.
- Oder alles rein in der ersten Hälfte und Körner verlierend und damit langsamer werdend nach hinten raus.
- Oder langsam zu Beginn und schneller werdend nach hinten raus.
- Oder völlig konstant von Beginn an.
Es ergibt sich daraus ein Optimum, das sich bei mir auf verschiedene Distanzen völlig unterschiedlich verhält und taktisch anders erreicht wird. Neulich bin ich hier eine Bestzeit auf den Halbmarathon von unter 1:22 gelaufen, völlig konstant in einer Pace von 3:53 Minuten auf den Kilometer. Das waren fast vier Minuten weniger als bei Berliner Halbmarathon im Frühjahr. Das sind Lichtjahre, Welten Unterschied. Klar, im Wettkampf hat man das Adrenalin, hier auf der Bahn aber dafür die absolute Kontrolle. Im Wettkampf bin ich diese Distanz schon schnell zu Beginn angegangen mit Einbruch hinten raus. Ein andermal langsam zu Beginn und immer schneller werdend nach hinten raus. Die konstante Art der Renneinteilung in einer exakt gleichen Pace über die 21K hat sich aber als ideal erwiesen, und zwar genau für diese Distanz. Bei anderen Distanzen verhält sich das vollkommen anders, und genau das findet man, finde ich auf der Bahn heraus. Die Bahn ist so etwas wie ein Versuchslabor, in dem man sich völlig störungsfrei ausprobieren kann. Toll, dass es diese in dieser Form gibt in meiner Stadt. Ich wünschte, dem wäre überall so.