Laufen, Sport,  Laufinspiration,  Ultra&Trail

ULTRA – Eindrücke und Gedanken zu einem normal gewordenen, extremen Sport

Das kleine, tanzende Licht taucht in der Dunkelheit auf. Zunächst sehe ich nur dieses Licht und dann, peu en peu, erkenne ich die schwarzen Umrisse eines Läufers. Er taucht auf einem langen, geraden Asphaltweg auf, der hinter ihm von der schwarzen Nacht verschluckt wird. Das Einzige, das man hört, sind die summenden Aggregate, die irgendwo aus dem Industriegebiet stammen, das sich rechts des Weges erstreckt, und einen bellenden Hund. Ein eigenartiger Ort ist das hier, an dem Berlin im Prinzip aufhört und sich der Berliner Mauerwerg in die Zersiedelung der Stadtausläufer hinausfrisst. Vorbei an zerborstenen Scheiben, Industriebrachen und dubiosen Industrieflächen mit kriminell anmutendem Nebel darüber, bewacht von viel zu großen, sabbernden Hunden wie dem, den ich gerade höre und niemals begegnen will. Ich kann Hunde nicht so gut leiden, insbesondere die großen nicht! Ich habe stets Angst, wenn ich an großen, nicht angeleinten Hunden vorbei muss und es hilft auch nicht, wenn der Halter zu mir sagt: „Der macht nichts!“ Vermutlich so ein Läuferding! Dann vernehme ich die leisen Schritte des Läufers. Für ihn muss es ein großes Glück sein, auch unser Licht in der Dunkelheit zu sehen. Was er wohl gedacht hat die letzten Kilometer? Ich weiß es nicht! „Good Job“, ruft Stefan ihm zu und klatscht in die Hände, gleiches mache ich auch und schaue in das Gesicht des Läufers. Er sieht nicht gut aus und ich versuche zu eruieren, was er braucht. Er schaut über unseren Tisch, auf dem sich auf der rechten Seite Getränke befinden – Cola, Wasser, Iso, Bier. Zu meiner Überraschung wird erstaunlich oft zu Cola gegriffen, was ich vom Marathon so nicht kenne. Aber das hier ist kein Marathon, das hier ist etwas anderes, etwas ganz anderes. Auf der linken Seite ist alles Mögliche an Essen – Süßigkeiten, Salzstangen, Obst, Trockenfrüchte, solche Sachen. Eigentlich keine Sachen, die ich bisher mit Laufen assoziiert habe. Ich beschreibe dem Läufer kurz, was wir da haben, obwohl ich schon jetzt weiß, dass er nichts zu sich nehmen kann. Er ist zu fertig, sein Magen gedemütigt, geplagt von Übelkeit, unfähig, irgendetwas zu verarbeiten. Dennoch greift er zu einer Salzstange, beißt ein Stückchen davon ab und kaut übertrieben lange darauf herum. 6,8 Kilometer, sage ich ihm, als er mich fragt, wie weit es noch ist. Ich sage bewusst nicht 7, weil 6,8 sich besser anhört, kürzer. Er schaut etwas verzweifelt drein, nicht glücklich, dass es nur noch so wenig ist. Aber was ist schon wenig? Der Mann ist bereits 157 Kilometer weit gelaufen und über zwanzig Stunden unterwegs, was sind da schon 7, Entschuldigung, 6,8 Kilometer? Eine Menge! Er fragt, ob er sich setzen könne und ich stelle ihm meinen Klappstuhl vor den Tisch. Er setzt sich hin und schneller als ich schauen kann, sackt er in sich zusammen und sein Kopf liegt zwischen einem Teller Gummibärchen und den Salzstangen. Er schläft sofort ein. Da es kalt ist, lege ich eine Decke über ihn. Ich möchte ihn zu nichts animieren, mich nicht einmischen in diese Angelegenheit, sondern ihn nur in seiner Entscheidung, wie auch immer diese sein wird, bestmöglich unterstützen. Ich würde ihn nicht lange schlafen lassen, ganz sicher nicht, aber auch nicht sofort aufwecken, weil ich weiß, dass er völlig fertig ist. Nach noch nicht einmal einer Minute steht er blitzartig auf und reißt die Decke irritiert von sich, als würde er nicht wissen, wo er gerade ist. Er glaubt sicher, er habe lange geschlafen und ich beruhige ihn, dass es wirklich nur ganz kurz war. Er fragt, wo es lang geht und ich weise ihm die Richtung. Dann torkelt er weiter, geht, läuft schließlich und verschwindet in der Nacht, tap, tap tap, wie ein Zombie im Nirgendwo. Und langsam werden die Geräusche der Schritte wieder abgelöst vom diesem Summen und diesem scheiß Köter. Der bellt schon wieder, weil aus der Dunkelheit schon wieder wackelnde Lichter auftauchen. Ein langes Vorwort war das jetzt für meinen eigentlich ganz klein angedachten Bericht – über einen ULTRA.

Bild: Pixabay

“Wir existieren in einer konstruierten Welt, in der alles darauf ausgerichtet ist, dass wir es bequem haben und nicht den Härten des Lebens ausgesetzt sind. Doch wir wurden dafür geschaffen, in einer Welt zu leben, die oft hart, mühsam und gefährlich ist.“ (Auszug aus dem Buch Der Aufstieg der Ultraläufer)

Eine der am schnellsten wachsenden Sportarten der Welt
Bevor ich Born to Run gelesen habe wusste ich überhaupt nicht, dass es Ultramarathons gibt. Wenn man dieses Buch nun liest und in den Bann dieses großen Abenteuers in Mexiko gezogen wird, in das sich die Protagonisten – darunter mit Scott Jurek und Jenn Shelton wahre Koryphäen dieses Sports – begeben, dann macht sich da eine unheimliche Faszination in einem breit. Was ist das eigentlich, ULTRA? Und als wäre das alles Fügung, drückte mir irgendwann ein Verleger aus Wien ein Buch namens DER AUFTIEG DER ULTRALÄUFER in die Hand, einen riesigen Schinken eines Ultraläufers namens Adharanand Finn. In dieser Geschichte begibt sich der Autor in das Abenteuer ULTRA und bereist die ganze Welt, um sich in den berüchtigsten Rennen der Welt für den Ultramarathon de Mont Blanc zu qualifizieren. Die Story lebt von den vielen Gesprächen, die Finn mit den Stars dieser Sportart führt – Zach Miller, Kilian Jornet, Jim Walmsley, um nur einige zu nennen. Gleichzeitig lebt das Buch von Fakten, zu denen jener gehört, dass der ULTRA die am schnellsten wachsende Sportart der Welt ist. „Wie bitte?“, fragte ich mich da. Wie kann es sein, dass ein Sport, der so unfassbar hart ist, der jenem, der sich diesem widmet, so unsagbar viel Zeit abverlangt, in dem kaum Geld zu verdienen ist, der im Gegenteil unsagbar viel Geld kostet – wie kann es sein, dass so ein Sport so beliebt ist?

160K, als wäre das nichts
Solche Sachen gehen mir durch den Kopf, als ich hier am Stand stehe und die Läufer versorge, die alle in einem anderen Zustand bei uns ankommen. Zwei der Topläufer sind bereits durch, als ich gegen frühen Abend meinen Dienst beginne, was mich enorm wundert. Wie ist es möglich, 160 Kilometer so schnell zu laufen? Ein dreißigjähriger Spanier benötigte dafür gerade mal 14 Stunden und 6 Minuten, das ist Wahnsinn! Ich bin froh, dass ich immerhin erleben darf, wie die weiteren TOP 10 Läufer hier vorbei kommen, wie zum Beispiel ein 50-Jähriger Däne, der mit 15:31 Stunden als Dritter über die Ziellinie laufen wird. Ich sehe ihm seine Erschöpfung durchaus an, aber es ist nur Erschöpfung, keine Zerstörung, wie ich sie später sehen würde. Der Mann wirkt unfassbar ruhig, als er an den Stand kommt. Er schaut sich auch nicht um, was es alles gibt, sondern fragt gezielt nach Salz. Vermutlich deshalb, weil der Natriumpegel durch die Flüssigkeitsaufnahme etwas abgesunken ist. Er bekommt einen Löffel Salz von uns in seinen Becher, spült diesen runter, lächelt kurz und ist auch schon wieder auf dem Weg, um mit kräftigen Schritten auch die letzten 7 Kilometer runter zu reißen. Äh, sorry, 6,8 meine ich natürlich. Alles in allem war der Mann zwei Minuten an unserem Stand, was sehr kurz ist und sich merklich zu später Ankommenden unterscheidet, die zehn Minuten und länger stehen bleiben. Bei 160K läppert sich die Verweildauer an den VP’S zusammen, weswegen die Läufer, je besser diese sind, kürzer dort aufhalten als andere.

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Wo ist die Härte?
Mittlerweile weiß ich ziemlich viel über den ULTRA, obwohl ich noch nie einen gelaufen bin. Okay, ich bin schon mal über 42K gelaufen, was per Definition ein Ultra ist. Aber ich würde mir nie anmaßen, das so zu nennen. Yiannis Kouros, einer der besten Ultraläufer aller Zeiten und dessen Weltrekorde (u.a. Spartathlon) zum Großteil bis heute bestehen, sagte einmal in einem Interview, dass jemand, der 50K laufe, für ihn kein Ultraläufer sei. Auch nicht jemand, der 70 laufe oder 100. Ultraläufer sei man dann, wenn man die eigenen Grenzen so derart kennenlerne in einem Level, in dem das eigene ich nur noch aus einer Art Vogelperspektive, also von außen wahrgenommen werde. Interessante Aussage, extrem auf jeden Fall und ja, auch irgendwie beängstigend. Aber auch – faszinierend. So faszinierend, dass ich mich gerne mit diesem Sport beschäftige. Ich weiß um die großen Rennen, die Stars dieser Szene und bekomme um mich herum mit – über STRAVA und Soziale Netzwerke – wie viele Läufer immer längere Strecken zurücklegen, manchmal tagelang unterwegs sind. Auf den Bildern, die dann gepostet werden, ist allerdings von Schwere und Härte fast nie etwas zu sehen. Stets lachende Gesichter, unterlegt mit den Laufdaten. 100, 160, 200 Kilometer mit von Understatement geprägten Texten, die im Prinzip stets aussagen, dass das alles problemlos möglich ist, dass man nur an sich glauben und vor allem, seine Träume in die Tat umsetzen müsse. OKAY, HABE ICH VERSTANDEN! Ich habe auch verstanden, dass der Mensch zu wirklich allem in der Lage ist. Dass man 50 Stunden lang ohne Pause zig tausende Höhenmeter aufsteigen und hunderte Kilometer in krassestem Terrain zurücklegen kann, AUCH DAS HABE ICH KAPIERT! Was ich aber auch weiß, ist folgendes. Die Härte eines solchen Laufs – das Halluzinieren, das Kotzen, das Wimmern, die Schmerzen, das Aufgeben jeglichen Privatlebens vor lauter Training – diese Sachen sind in diesen Bildern nicht sichtbar. Das heißt aber nicht, dass es das nicht gibt, es wird manchmal einfach ausgeblendet. Jemand, der das nicht unterschlägt, ist Scott Jurek. In seinen Büchern North oder Eat & Run geht er unfassbar ehrlich mit diesem Thema um. Er beschreibt die schönen Seiten genauso wie die schlechten, und die schlechten haben es, wie die guten, in sich. In North begibt sich Jurek ganz nah an die Grenze der menschlichen Selbstzerstörung, als etwas Geringeres kann man das gar nicht bezeichnen. Dieser Lauf hatte spätestens in der zweiten Hälfte mit Freude an der Natur gar nichts mehr zu tun! Sogar seine sonst positiven Charakterzüge erlöschen im Feuer der Härte dieses über 2.000 Meilen-Laufs und verhärten sein Verhältnis zu allen, denen er begegnet, sogar zu seiner Frau und Freunden wirklich extrem negativ. In Eat & Run beschreibt er, wie ihm bei einem Ultra im Death Valley die Kotze aus allen Löchern herausläuft. Will heißen, Schmerz in all seinen Facetten sind Alltag eines Ultraläufers, Leid zu ertragen fester Bestandteil. Adharanand Finn berichtet in seinem Buch im Rahmen des Ultras Ring of Fire von einer Halle voll wimmernder und vor Schmerzen schreiender Menschen. Von Läufern, bei denen vor lauter Laufen im extremen Bereich tierische Triebe zu dominieren beginnen und auch ein Toilettengang im großen Bereich unverhohlen auf der Strecke stattfindet, weil selbst die Scham keine Rolle mehr spielt. Das animalische im Menschen schlägt durch. Läufer brechen sich bei wagemutigen Strecken, die man als Laufstrecken nicht mehr bezeichnen kann, sondern eher als Free Climbing, alle Knochen, bekommen so starke Halluzinationen vor lauter laufen, dass sie Klippen herunter stürzen und sich in der Wildnis verirren. Warum sage ich das? Warum assoziiere ich den ULTRA hier mit negativen Facetten? Ganz einfach, weil sie dazu gehören, genauso wie die guten! Und insbesondere auch deswegen, weil davon nie gesprochen wird und mich einfach interessiert, warum das so ist. Ich möchte das alles ein bisschen besser verstehen, was einer der Gründe ist, warum ich heute hier bin.

Video über YIANNIS KOUROS

Da ist sie
Je später es wird, desto mehr wird sie dann doch sichtbar, die Härte des Ultras. Stefan und ich haben jede Menge damit zu tun, Läufer:Innen zu versorgen. Iso, Cola, Wasser, Bier, Gummibärchen, Salzstangen, Obst – wir sind nun ständig am Schnippeln, damit auch ständig für jeden genug auf dem Tisch liegt. Es ist dunkel geworden und wir haben unsere Stirnlampen aufgesetzt. Wir haben mittlerweile auch Verstärkung bekommen und sind mit Mike, der mit Stefan die Nacht durchmachen wird, während ich um vier Uhr die Segel streichen werde, nun zu dritt hier. Eigentlich sind wir zu viert, denn seit 20 Uhr ist auch ein Union-Fan vor dem Stand, hält ein Bier in der Hand und fragt uns ständig, ob wir ihn verarschen wollen. „Die laufen nicht wirklich 4 Marathons hintereinander, oder!“, fragt der dauernd. Nicht nur er, sondern viele fragen uns das. Mit unserem Zelt vor der S-Bahn-Station erregen wir viel Aufmerksamkeit, werden ständig gefragt, was hier los ist. Sage ich das jemandem, dann kommt erst einmal nichts, nur dieser „Du verarschst mich jetzt Blick“. Doch wenn sich dann der Blick von mir abwendet und hin zu den Läufern, die nicht aussehen wie normale Läufer, sondern eben wie sehr spezielle Läufer, dann glauben sie mir doch. Mit Mike und Stefan bin ich viel am Quatschen, vor allem mit Stefan. Der nämlich ist ein Ultra-Runner und hat sogar diesen Lauf hier schon einmal mitgemacht, 27 Stunden hat er gebraucht und ich stelle ihm viele Fragen. Wie trainiert man für sowas, wie steht man das durch, wie tritt man auf, wenn der Fuß wehtut, solche Sachen. Stefan hat lange in Kalifornien gelebt und ist dort viele Ultras gelaufen. Jetzt ist er hier in Berlin und hat sich erst einmal arbeitslos gemeldet. Er steht keine Büroarbeit mehr durch, hält es einfach nicht mehr aus. Ich verstehe das! Wie halte ich das eigentlich aus? Ein älterer Läufer kommt an den Stand gehumpelt in einem sehr merkwürdigen Laufstil. Ich frage ihn, was mit seinem Bein los ist. Er sagt mir, wenn er sein Bein nach außen dreht, auftritt und es dann nach innen eindreht, dann ginge das mit den Schmerzen. Wäre das eine Begegnung im Alltag, würde ich sagen: „Junge, suche dir einen Arzt, JETZT!“ Weil das hier aber ein Ultra voller Nerds ist, sage ich: „Alles klar, es ist nicht mehr weit, was willst du haben, ein Bier?“ unser Stand ist vor einer Straße platziert, über die man gerade laufen muss. Verlassen die Läufer den Stand und fragen mich, wo es lang geht, dann sage ich, geradeaus über die Straße. So mancher läuft trotzdem einfach nach links, andere nach rechts, und dutzende Male renne ich hinterher und rufe: „Nein, nein, hier geht’s lang, geradeaus.“ Hier bei K 157 ist der Geist bei vielen im Delirium, irgendwo anders, aber nicht hier. Wie ich schon sagte, der Zustand der Läufer ist immer anders, reicht von „easy going“ über „ziemlich kaputt“ bis „völlig zerstört“.

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„Ein Grund, warum Leute an solchen Veranstaltungen teilnehmen, ist, dass sie ihre Komfortzone verlassen und die Härten des Lebens am eigenen Leib erfahren, um danach wieder nach Hause zu gehen und das, was sie haben, besser zu schätzen wissen.“ 

Der Aufstieg der Ultraläufer

Warum? Warum macht man das also? Wie Adharanand Finn in seinem Buch schreibt, geht es natürlich um das Erfahren der eigenen Grenzen, in diesem Fall um die wirklich absoluten, äußersten Grenzen und der damit verbundenen Härte. Und es wird sicherlich auch etwas Wahres dran sein, dass man, lernt man diese kennen, glücklicher in den Alltag zurückkehrt. Ich glaube aber auch dass es – gewiss nicht bei allen, aber doch bei vielen Läufern – mehr um Anerkennung geht, als die meisten das wirklich zugeben wollen. Die publizierten Bilder sind, insbesondere im Bereich Trail-Ultra, so eine Art Freiheitsverkündung und in gewissem Sinne eine Abwendung vom Mainstream-Asphalt-Marathon. Eine Abkehr von Goodie-Bags und dem ganzen Tam Tam, mit dem ein Ultraläufer nichts mehr zu tun haben möchte, weil das alles völlig durchkommerzialisiert ist. Der Ultraläufer sucht die Verbundenheit mit der Natur, das Event abseits des Massenevents. Und dort, abseits der Stadt, werden nun Extremleistungen erbracht – insbesondere was die Streckenlänge angeht – welche die Marathondistanz in der Regeln weit überschreitet. Auch das Äußere dieser Läufer unterscheidet sich oft von dem eines „normalen Läufers“. Coole Cappys, Bärte, Tattoos überall, das sieht man hier sehr oft. Es geht hier zweifelsohne mitunter darum auszudrücken, dass man hier etwas anderes, etwas Neues macht. Etwas das einhergeht mit vielem, was man so beobachten kann. An jeder Straßenecke werden VW-Busse zu Campern ausgebaut, jeder will was davon ab von dem “Unter den Sternen Lifestyle”, das meine ich.

Was bei Ultraläufern schon ein bisschen auffällt, ist eine gewisse Portion Understatement. Die Leistungen, die hier durchgezogen werden, sind ja enorm und mit gewaltigem Aufwand verbunden. Die Kunst liegt darin, diesen Aufwand und die damit verbundene Erschöpfung nicht als solche aussehen zu lassen. So, als wäre das alles ganz easy machbar. Auf Youtube sieht man Extremläufer auf spitzen Bergkämmen entlang rennen, während es rechts und links schwindelerregend runtergeht. Sicherung – keine! Ist das noch Laufen und schon Klettern, oder beides? Einer macht einen 24-stündigen Trainingslauf, während ein anderer gleich vier Tage durchrennt, als wäre das nichts. Auf so etwas schauen wir dann mit einer gehörigen Portion Bewunderung: „Wie ist das möglich?“ Wie ich schon sagte: Dieser „Als wäre das nichts“ Effekt ist bestimmt nicht ganz unbeabsichtigt und man hat schon hin- und wieder den Verdacht, dass es hier ein Stück weit um Anerkennung geht. Natürlich in erster Linie um Naturverbundenheit und dem Finden der eigenen Grenzen, klar. Aber dafür braucht es diesen Grat des Risikos ja nicht und da kann man sich schon mal fragen, ob das jemand macht, damit er oder sie aus der Masse, die ja an sich schon extrem ist, als noch extremer heraussticht. Nun hat Anerkennung etwas mit Leistungsdruck einer Leistungsgesellschaft zu tun, der man im gewissen Sinnen bei einem Ultra eigentlich entfliehen möchte, nicht wahr? Und genau diese Diskrepanz verstehe ich nicht ganz. Jemand, der mit diesem Thema Anerkennung sehr ehrlich umgeht, ist Zach Miller. Der zu den besten Ultra-Runnern gehörende Amerikaner sagt zum Thema im Buch der Aufstieg der Ultraläufer folgendes:

„Das Ego spielt eine große Rolle, denke ich. Das Gefühl des Siegens, die Komplimente, die Aufmerksamkeit, es macht süchtig. Und du willst immer mehr, denn irgendwann ist es vorbei!“ 

Der Aufstieg der Ultraläufer

Ein Haufen Elend Um mich herum geht es zu wie in einem Feldlazarett. Vor dem Stand sitz ein Texaner auf meinem Klappstuhl und wippt schon seit zwanzig Minuten sachte vor- und zurück, während er ins Leere blickt. Ein Italiener wollte sich kurz hinsetzen und liegt jetzt schon viel zu lange in einer Ecke. Ich habe ihn mit einer dieser glänzenden Feuerwehrdecken zugedeckt und habe vor, ihn in zehn Minuten nochmal anzusprechen. Stefan pennt auf einer Holzpalette und Mike schnippelt Tomaten klein, während vor ihm kaputt aussehende Läufer mit müden Augen und schwacher Stimme das Angebot scannen. Es ist vier Uhr morgens, Samstagnacht. Normale Menschen tanzen jetzt oder schlafen, aber hier geben sich Ultraläufer aus aller Welt voll die Kante. Von Freude ist hier eigentlich weitestgehend keine Spur mehr zu sehen. Obwohl, manche Läufer sind wirklich noch zu Späßen aufgelegt, meistens sind das aber Staffel-Läufer, Einzelläufer nicht. Jene Einzelläufer, die so etwas packen, ohne zu zerbrechen, sind lange durch. Wer jetzt hier ankommt, und das ist jetzt erst langsam die große Masse, ist entweder fasst am Arsch oder bereits ganz. Wer zu meinem Erstaunen oft gut gelaunt hier ankommt, sind ältere Läufer, die auf mich oft einen fitteren Eindruck machen als junge, jedenfalls jetzt zu dieser Uhrzeit. Womöglich liegt das vielleicht an deren Gründen, das hier durchzuziehen, die sich sicherlich unterscheiden von jenen Läufern jüngeren Alters. Ich male mir aus, dass es einem älteren Läufer nicht mehr um Anerkennung geht, sondern in erster Linie um die eigenen Grenzen oder dem Finden von irgendetwas. Viele Jüngere beschweren sich über das nicht funktionierende Chip-Lesegerät. Ich sage denen: „Hey, wird schon kein Problem sein, ist schließlich bei allen so gewesen.“ Die fragen deshalb nach, weil sie sich bei diesem Rennen für andere Rennen qualifizieren wollen, zum Beispiel, wie mir jemand sagt, für den Sparthathlon, der noch krasser ist als dieser Lauf. Manche werden es sicher auch auf den legendären UTMB abgesehen haben, der Ultra aller Ultras. Irgendwie ist mir das etwas suspekt, jedenfalls ein bisschen. Mich völlig zu verballern bei einem knallharten Lauf, um noch einen viel heftigeren mitzumachen, warum? Und zwar interessiert mich die Antwort auf diese Frage deshalb, weil viele dieser Leute gerade nicht im Geringsten den Anschein haben, als hätten sie Spaß bei dem, was sie da gerade machen.

„Ultra Running war, als drösche man so lange auf das Laufen ein, bis es fast tot war.“ 

Der Aufstieg der Ultraläufer
Ma San Blog Marathon 2

Was ich für mich mitnehme
„Wenn ich nicht schneller laufen kann, dann laufe ich eben länger!“, lautet so ein Läuferspruch. Der Marathon, einst extrem in der Wahrnehmung, ist es im Schatten des Ultras längst nicht mehr. Zu kurz die Distanz, sagt so mancher Ultraläufer lächelnd. Was mir an solchen Aussagen nicht gefällt ist, dass dem Marathon die Magie abgesprochen wird und die Härte, die er innehat. Denn ein Marathon ist die Kopplung von Distanz und Geschwindigkeit und das Resultat, das dabei herauskommt, ist aller Welt ein Begriff. Hier sind die Messlatten sogar jenen bekannt, die vom Laufen keine Ahnung haben. Okay, Jeder kann einen Marathon laufen, volle Zustimmung, aber – NUR GANZ WENIGE können diesen schnell laufen! Jeder kann – so sehe ich das – eine lange Distanz zurücklegen, wenn die Zeit dafür beliebig gewählt werden kann, oder nicht? Selbst jemand, der im Prinzip nichts von der Materie Laufen versteht, kann bei einem Ultra auffallen schlichtweg aus dem Grund, weil die Distanz lang ist. Niemand kann auf Anhieb sagen, ob 20 Stunden beim Berliner-Mauerweg-Ultra ein gutes Ergebnis sind oder nicht, oder 35 Stunden beim UTMB, oder 25 Stunden bei Lavaredo Trail. Folglich ist derjenige, der einen solchen Lauf finisht, in jedem Fall immer ein krasser Typ, also in der Wahrnehmung.

Nun ist die typische Antwort eines Ultraläufers, dass es eben nicht um Leistung gehe, sondern um den Trail, die Gemeinschaft, usw. Das finde ich nicht ganz glaubwürdig, weil letztlich ist auch ein Ultra ein Wettkampf. Und wenn Leistung angeblich keine Rolle spielt, warum dann an einem Wettkampf teilnehmen? Einen Ultra zu finishen ist eine enorme Leistung, aber nicht zwingend eine läuferische, sondern eine gewaltige WILLENSLEISTUNG. Um 4 Uhr morgens bei diesem Lauf hier jedenfalls sehe ich nichts mehr, was mit Laufen noch viel zu tun hat. Da ist keine Eleganz, keine Leichtigkeit und Perfektion, wie sie ein guter Marathonläufer innehat. Adharanand Finn drück das zu Beginn seines Buches wie folgt aus: „Ultra Running war, als drösche man so lange auf das Laufen ein, bis es fast tot war.“ Genauso empfinde ich das gerade hier auch . Viele laufen gar nicht mehr, sondern gehen, ohne eine Flugphase, also jenen Moment, in dem beide Füße in der Luft schweben. Ein Aspekt, der Laufen von Gehen oder Wandern per Definition unterscheidet. Folglich ist das, also jetzt in diesem Augenblick, kein Laufen mehr aus meiner Sicht, sondern etwas anderes. Das hier ist ein Massaker! Laufen ist das hier jedenfalls nicht. Das war es bei den Läufern vor zehn Stunden, aber nicht jetzt. Die Unterschiede hier beim Mauerweglauf sind ja gewaltig. Vorne wird in 14 Stunden gefinisht, nach hinten raus wird bis 11 Uhr morgens gelaufen, der Lauf quasi wie Kaugummi in die Länge gezogen.

Ich habe den Eindruck, dass das Ganze auf den Punkt hinausläuft, dass alle zu kleinen Reinhold Messners werden wollen. Im Alleingang werden heute die Meere durchschwommen, laufend die Welt umrundet so dass man manchmal den Eindruck hat, dass es nur noch darum geht, krasser sein zu wollen als andere. Ist die Superlative das Credo der Zeit? Immer weiter, höher, krasser? Wer Ultra läuft und sich wie ein Ultraläufer gibt – mit Cappy, Bart, Tattoos und obligatorischen Camper – der fällt auf – noch! Denn auch der Ultra ist vor Kommerzialisierung nicht gefeit. Diese findet statt, und zwar rasanter als man das wahrhaben möchte. Ultra ist die schnellst wachsenste Sportart der Welt (Der Aufstieg der Ultraläufer). Läufer geben ein Vermögen aus, um an den berüchtigten Rennen teilzunehmen, die an immer spektakuläreren Orten, von der Antarktis bis zur Sahara, stattfinden. Vorbei ist die Blütezeit des Ultras, in der Exoten wie Scott Jurek oder Speed Goat eine kleine, minimalistisch geprägte Szene anführten. So mancher, der heute mal weiter als die Marathondistanz läuft, betitelt sich heute ganz schnell als Ultraläufer, indem er sich auf die Definition des Ultras beruft, der eben bei 42K anfängt. Das hat nichts, aber auch gar nichts mit der Haltung eines Yiannis Kouros zu tun, der den Ultra eben nicht über die Distanz definiert, sondern über die Erfahrung, die man im absoluten Grenzbereich erfährt. Die Szene hat sich gewandelt und wird dies auch weiter tun. Elite-Marathonis kehren dem Marathon den Rücken und pulverisieren alle Bestzeiten auf allen Ultra-Strecken. Sie werden angezogen von der steigenden Beliebtheit des Ultras und damit einhergehend von Sponsoren, die auf der Bildfläche auftauchen, weil es um immer mehr Geld geht. Peu en peu verdichten sich die Streckenbestzeiten, bis es selbst bei einem UTMB irgendwann nur noch um Minuten gehen wird. Und dadurch wird auch der Ultra ein Stück weit Magie einbüßen, weil selbst eine unerhört anmutende Strecke wie diese letztlich sehr berechenbar wird.

Ich leg mich jetzt schlafen
Ich glaube ja wie gesagt, dass Distanz entkoppelt von Zeit kein Problem ist. Und um das zu beweisen, also mir selbst zu beweisen, habe ich mich für dieses Jahr für den 73K-Rennsteiglauf angemeldet. Ich werde den Faktor Zeit einfach rausnehmen und das Ding genießen und erwarte dabei nicht die geringsten Probleme. Wir werden sehen, ob das stimmt. Jedenfalls werde ich zukünftig besser mitreden können, da ich dem Phänomen Ultra hoffentlich etwas näher gekommen bin. So, ich bis jetzt auf dem Heimweg. Meinen Campingstuhl habe ich über meinen rechten Lenkergriff gelegt. Stefan pennt noch auf der Palette, Mike schnippelt unentwegt, der Union Fan ist weg, weil er kein Bier mehr von uns gekriegt hat. Das ist für die Läufer, haben wir gesagt, und weg war er. Ich winke Mike, er winkt zurück und ich fahre den Mauerweg Richtung nach Hause. Vorbei an Läufern, die sich schweigend weiterschleppen, tap, tap tap. Wenn ich mich gleich ins Bett lege, so gegen halb fünf, wird immer noch gelaufen. Und wenn ich später aufwache, immer noch.

Fragen, Anregungen? Schreib mir!

Ma San

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