Matthias Politycki 42,195: Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken (Buchrezension)
Der Schriftsteller Matthias Politycki ist in erster Linie durch seine vom Reisen inspirierten Romane, Erzählungen und Gedichte bekannt. Wenn er gerade nicht schreibt oder in der Weltgeschichte herumreist, dann würde ich wetten, dass er gerade läuft. Ich betone – läuft, nicht joggt! Das nämlich ist ein nicht unwesentlicher Unterschied, den vermutlich niemand so leidenschaftlich erklären kann wie ein schreibender Marathoni. Das nämlich ist dieser Mann, ein erfahrener, mit allen Wässern gewaschener Marathon-Läufer. Diese Kombination – also Schreiben und Laufen – erinnert sofort an Haruki Murakamis „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“, in dem der japanische Autor in beeindruckender Weise beschreibt, dass er alles, was über das Schreiben wisse, vom Laufen gelernt habe. An diese Richtung habe ich gedacht, als ich 42,195 in die Hand nahm, habe aber schnell begriffen, dass es nur die Richtung ist, die beiden Autoren gemeinsam ist.
„Laufen scheint das Ventil schlechthin gegen alles zu sein. Eine innere Generalreinigung. Danach sind wir ganz leicht geworden, den Rest des Tages wieder mit uns und der Welt im Reinen.“ (Buchauszug)
Laufen in der Gemeinschaft
Matthias Politycki ist kein einsamer Steppenwolf, sondern ergründet die Welt des Laufens innerhalb seiner Laufgruppe. Da ist der Trainer JP, der weiße Kenianer, der die Gruppe antreibt, und die Mitstreiter, darunter Seb, Ilka, Peter, Majorna und Marion. Die Menschen sind charakterlich völlig unterschiedlich und interessanterweise lebt das Buch insbesondere durch die unterschiedliche Sichtweise auf die Dinge. Mal streitet, mal einigt man sich, und mal gibt es kein richtig oder falsch. Seb ist ein unermüdlicher Hardliner, Peter der Genussläufer, und JP der unerbittliche, mal geliebte, mal verhasste Alleinherrscher über alles. Und so verschieden sie alle sind, so sind sie doch vereint unter dem Banner des Laufens.
„Das ganze Leben ist ein Rennen – mit Vorbereitungszeit, Erfolg und Niederlage. Auch das beste Rennen hat Tiefpunkte, aus denen man sich aber aus eigener Kraft herausarbeiten kann. Wer das versteht, kann es auch im sonstigen Leben.“ (Buchauszug)
Training für den Marathon
Im Zentrum des Geschehens sind die von JP auferlegten Trainingseinheiten, mal hart an der Leistungsgrenze, mal ganz entspannt. Politycki beschreibt sehr gut, dass es auf die Stimmung ankommt, mit der man einen Lauf angeht. So könne dieser sowohl ein Kurs in Selbsterkenntnis sein oder aber ein lustloses Dahingedümpel, das man am liebsten mit einer Busfahrt nach Hause abbrechen würde. Und diese eine Stimmung gebe es sowieso nicht. Wie der Marathon selbst sei jeder Lauf ein auf- und ab, beinhalte eine Gefühlswelt von abscheulichen Hassreden bis zum Lobgesang auf die Welt. Und dann seien da auch noch diese Läufe, die anmuten wie eine einzige, schwerelose Zen-Übung, sich ergebend aus dem Ausschalten des Kopfes, die in ein tieferes, klareres Denken mündet. Ein, wie er schreibt, konzentriert sein, ohne sich zu konzentrieren. Dieser Zustand aber sei dem erfahrenen Läufer vorbehalten, der durch unaufgeregte Gleichmäßigkeit das Training gar nicht mehr spüre und einen wunderbaren Zustand erreiche. Um dorthin zu kommen bedürfe es aber des Kennenlernens der eigenen Grenzen, der Nachjustierung von Ambitionen und der Bewältigung von Schmerz. Bildlich gesprochen: Zu einem anmutenden Panorama am Ende eines Berglaufes gehöre eben auch immer der mühevolle Anstieg.
„Wo andere in de Midlifecrisis geraten, überschlägt er seine Chancen und gibt vielleicht sogar noch mal Gas“ (Buchauszug)
Warum Marathon laufen?
Die Frage nach dem „warum“ taucht in nahezu jedem Laufbuch auf und auch Matthias Politycki hat dazu seinen ganz eigenen Ansatz. Zunächst einmal sei da einiges mitzunehmen, also vom Laufen ins Leben. Wie bei Murakami zieht auch er schöpferische Kraft aus dem Laufen, indem ihm die besten Ideen ganz unversehen und zufällig einfielen. Vielleicht liege das auch daran, weil ein Roman einem Marathon sehr ähnlich sei. Auch dieser sei eine lange, abgesteckte Strecke, für deren Bewältigung es Mut, Willen und Kraft bedürfe, körperliche und geistige. Und letztlich wisse man auch nie, was einem auf dem Weg erwarte.
„Die Euphorie kommt frühestens im Ziel – und davor erst der Schmerz, durch den man sich ab Kilometer 30 kämpfen muss.“ (Buchauszug)
Gleichermaßen sei da auch diese Kraft, die wir durch Überwindung all diese Mühen gewinnen würden. Ein Marathoni ließe sich nicht aufhalten, weder von Zäunen und Mauern, noch durch öffentliche Meinung. Auch in Tiefpunkten habe ein Marathoni stets Zuversicht, da wieder raus zu kommen. Während andere ausstiegen, bleibe er beharrlich dabei. Und wie die Durststrecke beim Marathon überwinde er auch die Tiefen des Lebens, ohne wilde Zwischenspints, sondern zäh und beharrlich mit der steten Gewissheit, dass stets niemals alles gelaufen, immer noch etwas möglich sei.
Für Politycki ist Laufen der Inbegriff der Mäßigung, eine Zufriedenheit in der Bewegung, die uns auch im Leben hilft, in unserer Mitte anzukommen. Und oft resultiere all das zwar in eine durchaus verzerrte Selbstwahrnehmung, aber eben auch in bessere Laune und Gesprächskultur, die schöner sein könnte, würden alle Menschen laufen.
„Erst wenn man auch all das Langweilige am Laufen akzeptiert, ist man bereit für den Moment, wo die Ödnis der Strecke aufreißt und das Glück am Wegesrand freigibt.“ (Buchauszug)
Von Politycki lernen
Der Autor untermalt seine sehr unterhaltsamen Zeilen mit jeder Menge Fachwissen, welches er mit Erfahrungen kombiniert und den Leser damit bereichert. Politycki hat viele Marathons gelaufen, von New Yorck über London und den Rennsteig bis zur Serengheti, und vieles dabei erlebt. Diese Nervosität am Start eines Wettkampfes, das Spüren der eigenen Grenzen ab Kilometer 30, die Endphase eines Marathons, in der wir an nichts mehr denken und ganz Auge sind, alles um uns herum zu Schemen zerfließt, all das wird ganz wunderbar erzählt.
Neben diesen unmittelbarer Rennerfahrungen unternimmt Politycki Ausflüge in die großen Momente des Laufsports und in die Wissenschaft. Wie ist es möglich, dass in diesem Sport ein 64-jähriger die Leistung eines 19-jährigen erzielen kann? Wie hat es Jenny Wood geschafft, mit 71 Jahren ihren ersten Marathon zu laufen und Fauja Singh mit 89? Warum ist es wichtig, sich beim Laufen zu hören und sich nicht durch Musik abzuschotten? Hier kann der Leser einiges mitnehmen, lernen, die Signale des Körpers besser wahrzunehmen, lernen, mit allen Sinnen in sich hinein zu lauschen.
„Der Mensch hat scheinbar nicht nur das Bedürfnis nach Frieden, sondern – zumindest der Mensch als Mann – das Bedürfnis nach Selbstbestätigung in Extremsituationen einschließlich Kampf und Krieg.“ (Buchauszug)
Hier bezieht sich Politycki auch auf den Trend der sich mittlerweile etablierten Erlebnisläufe, die mehr und mehr paramilitärischen (Tough Mudder) Survival Urlauben inkl. Besäufnis gleichen und den Marathon als etwas Langweiliges bezeichnen, auch ganz offiziell auf deren Websites. Und gerade hier bricht Politycki die Lanze für das Laufen. Es sei eine Erholung, nur eine einige Sache zu machen, sich eben nicht abzulenken, wozu es auch gehöre, das Langweilige zu akzeptieren und sich selbst zu ertragen. Ja, ein Leben als Marathoni bringe viel Verzicht mit sich, ein reduzierteres Lebenskonzept, aber auch ein anderes Lebensgefühl. Man versäume einiges, erlebe aber vieles intensiver, was vielleicht nicht in Glück, aber in Zufriedenheit resultiere.
„Weil ich einfach nicht aufgehört habe zu laufen. Weil die Strecken weiter und die Möglichkeiten bunter, die Herausforderungen greifbarer wurden. Weil ich auch nach Jahren noch gern lief, nach Jahrzehnten. Das war kein Entschluss, auch keine Zäsur, es ging einfach weiter.“ (Buchauszug)
Hinsichtlich Laufausrüstung geht Politycki bis ins Detail inklusive der Realität, dass man Läufer mit witzig und mies bedruckten T-Shirts notgedrungen überholen muss. Schön finde ich, dass der Autor auch das Barfußlaufen thematisiert und wirklich detailliert auf Themen wie Laufstil, Sprengung, Schrittlänge- und Frequenz eingeht. Natürlich kommt hier der Verweis auf Born to Run von Christopher McDougall, ein Buch, welches ich ebenfalls rezensiert habe, weil ich es liebe, in der Läuferwelt aber umstritten ist. Dass es mittlerweile in jedem neuen Laufbuch (so auch hier!) mindestens einmal erwähnt wird, zeigt für mich deutlich, dass die Auseinandersetzung mit dem Barfußlaufen und den Laufstil durch Born to Run initiiert wurde und eine tiefe Auseinandersetzung mit eben diesem Thema ausgelöst hat, was ich für enorm wichtig halte.
„Ein Läufer läuft um zu laufen, aus keinem anderen Grund!“ (Buchauszug)
Ein Läufer ist kein Jogger
Endlich mal einer, der es laut sagt: Ein Jogger ist kein Läufer! Ein Jogger höre Musik, ein Läufer nicht. Ein Jogger hüpfe an einer roten Ampel herum, ein Läufer nur gelegentlich. Ein Jogger trage das Smartphone am Oberarm, ein Läufer nicht. Ja, bei dieser Frage wird viel diskutiert in der Laufgruppe. Aber bei einem sind sich dann doch alle einig: Ein Training, ja das merke man, in den Schultern und in der Hüfte, in den Knien, den Plantarsehnen und sonst wo. Und auch Schmerz gehöre dazu, denn dieser sei der Grundton der Natur. An die eigenen Grenzen zu gehen sei immer verbunden mit Schmerzen, und im Gegensatz zu einem Jogger suche der Läufer genau das.
„Klar wir sind zu alt um zu sprinten und wir könnten über dieser Erkenntnis depressiv werden: Säufer werden, verlottern, vor die Hunde gehen. Dann lieber Marathon bis der Arzt kommt, oder?“ (Buchauszug)
Die Schattenseiten
Die Euphorie des ersten Marathons ließe sich nicht wiederholen. Politycki ist mutig genug, Laufen mit Drogen zu vergleichen, schreibt von süchtig machenden Selbstüberwindungserlebnissen: „Laufen ist nichts anderes als die Produktion körpereigener Rauschmittel.“ Die Dosis, bestehend aus Zeit und Strecke, reiche schon bald nicht mehr aus, und schon werden die Grenzen auch schon wieder nach oben verschoben. Und da sind wir bei den Schattenseiten, die das Training für Marathons mit sich bringt.
Mit dem Körper verändere sich leider auch der Freundeskreis, weil das Training stets dem gemütlichen Bierchen mit dem Freund bevorzugt würde. Denn: Ein Marathoni möchte sich zur Elite rechnen mit der Folge, dass er sich eine Art Pseudoprofessionalität zulege, um sich wie ein richtiger Athlet zu fühlen, der er in Wahrheit gar nicht ist. Eine durch Werbung bestätigte Fehleinschätzung sei das, mit Folgen.
„Wir laufen Marathon, um ihn gelaufen zu sein. Um dann darauf zu trainieren, dass wir den nächsten laufen können. Die Leere danach ist keine Alternative.“ (Buchauszug)
Ab einer Personal Best von 3:30 sei kein soziales Leben, keine normale Ehe mehr möglich, da neben dem Beruf alle Freizeit für Training und Regeneration benötigt würde. Um 5 Uhr morgens zu laufen oder spät abends, das hinterlasse Spuren, mache vor allem Männer manisch und besessen. So würde der Trainingsplan zum Lebenskorsett und Sinn zugleich und die schwerste Zeit eines Läufers eine Phase der Regeneration. Sprich, den Druck der Leistungsgesellschaft, in der wir leben und der wir eigentlich entfliehen wollen, nähmen wir bereitwillig mit in die Freizeit, um uns auch dort von ihm auffressen zu lassen. Unsere Pulsuhr würde zum totalitären Überich, der Besitzer zum Besessenen. So sehe sich fälschlicherweise jeder Freizeitsportler als Athlet, als Leistungssportler, was grotesk sei, und auch schlichtweg nicht stimme.
Politycki gibt an dieser Stelle zu bedenken, immer wieder zu hinterfragen, warum wir das tun, was wir tun. Sei uns dieses Hecheln nach der Personal Best eigentlich bewusst? Haben wir die Unschuld des Laufens tatsächlich verloren, sind wir aus dem Läuferparadies längst vertrieben worden, jenem Garten Eden, in dem wir einfach so laufen, ohne Mühsal und ohne Parameter? Mir hat das zu Denken gegeben, wie viele andere Themen, die Politycki aufschlägt, auch. Ja, Laufen ist der Inbegriff der Mäßigung, die Zufriedenheit in der Bewegung, von manch einem Philosophen, wie er schreibt, höher bewertet als Glück, da gebe ich dem Autor völlig recht. Deshalb tun wir Hobbyläufer alle gut daran, uns nicht zu ernst zu nehmen. Und zuviel einbilden sollte man sich als Marathoni ohnehin nicht. So seien wir in den Augen eines Ultraläufers lediglich erbärmliche Jogger!
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3 Kommentare
Julius
Ich bin der Ansicht, dass Marathon laufen auch auf Erfolg in der Arbeitswelt ab färbt. Ich habe häufig die Erfahrung gemacht, dass sportliche aktive Menschen in ihrer Arbeit auch erfolgreicher sind. Ich denke dies hat vor allem damit etwas zu tun, dass man beim Ausdauersport lernt, etwas durchzuziehen. Ein klares Ziel vor Augen zu haben und dieses auch zu erreichen. Beziehungsweise immer weiter zu trainieren, bis man die gewünschte Strecke auch laufen kann. Und beim laufen die Schönwälder zu genießen, das ist wie ich finde ein wahres Glück auf Erden. Vielen Dank für diesen schönen Beitrag! Hat mir wirklich sehr gut gefallen.
MaSan
Hi Julius,
danke fürs Vorbeischauen! Was mir das Laufen aber auch beigebracht hat, ist anzuerkennen, dass es immer jemanden gibt, der schneller, besser, krasser ist als ich. Ich kann Niederlagen eingestehen und anderen Menschen deren Erfolg gönnen, auch wenn ich den Kürzeren ziehe. Das kann ich deshalb, und zwar mit gutem Gefühl, weil ich weiß, dass ich alles gegeben habe. Und das gilt im Sport wie im Leben.
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