T. Coraghessan Boyle – The Tortilla Curtain (Buchrezension)
Diese Geschichte über illegale Einwanderer in Kalifornien geht an keinem spurlos vorbei.
Eines vorweg für die, die diesen Autor noch nicht kennen sollten: T.C. Boyle ist eine Naturgewalt. Wie in vielen seiner anderen Bücher wagt er sich auch mit The Tortilla Curtain (deutscher Titel: América) an ein großes Thema – Immigration, und die Reaktion einer Wohlstandsgesellschaft auf diese. Das Schicksal eines ihr Glück suchenden mexikanischen Paares in ihrer Mitte und schamlose Verachtung, die sie erwartet, ist erschütternd. Boyle hält uns den Spiegel vor die Augen, messerscharf, eiskalt, doch auch mit viel Ironie und Humor. 1995 erschienen, löste das Buch bei vielen Lesern Entsetzen aus, doch ein paar Jahre später ist es bereits ein moderner Klassiker und Pflichtlektüre vieler Schulen, auch in Deutschland. Angesichts eines zwangsgeräumten Asylbewerbercamps in München, Immigranten, die am Berliner Oranienplatz um ihre Rechte kämpfen, oder auch mit Blick auf die Schwemme von Flüchtlingen an Italiens und Griechenlands Küsten, könnte der Inhalt kaum aktueller sein. Ein sagenhaft guter Roman über unsere Welt, die unveränderlich und präzise geteilt aus Reichen und Armen besteht.
Schöne heile Welt
Delaney lebt mit seiner Frau Kyra und Sohn Jordan in den privilegierten Arroyo Blanco Estates außerhalb von Los Angeles. Die Reichen und Schönen leben hier, wie sie selbst, mit der Natur im Einklang und fernab jeglichem Großstadtverbrechertum. Diese Idylle sehen die Bewohner nun durch die steigende Anzahl illegaler Einwanderer und damit einhergehender Kriminalität bedroht, und im Community Center wird darüber debattiert, die Häuser einzuzäunen. Delaney wehrt sich zunächst aktiv gegen die Zaunanlagen: „Crime? Up here? Wasn’t that what they’d come here to escape?“ Er ist Naturaktivist, widmet sich dem Schreiben über Flora und Fauna. Er liebt es, durch den Canyon zu wandern und ist als Verfasser der monatlichen Kolumne Wide Open Spaces bekannt, an der er jeden Tag von neun bis ein Uhr schreibt. Er ist Perfektionist und hat seinen Alltag, seine Welt, unter Kontrolle. Als er mit seinem Freund Jack über das Immigrationsproblem spricht und dieser ihn mit seiner Meinung, die Grenzen zu Mexiko hermetisch abzuriegeln, konfrontiert, entgegnet dieser ihm, ein Rassist zu sein. Jeder, sagt er, habe eine Chance verdient: „Do you realize what you’re saying? Immigrants are the lifeblood of this country – we’re a nation of imigrants.”
Der Wendepunkt
Doch ein Ereignis wirft auf einmal sein Leben aus der Bahn. Er fährt gerade die Straße entlang des Canyons hinauf, als ihm ein Mann vor das Auto springt. Als er diesen, schwer verletzt, am Straßenrand findet, verwandelt sich seine Sorge in Verwunderung: „The United States didn’t share a two-thousand-mile border with France – or with Norway either. The man was Mexican, Hispanic, that’s what he was.“ Er gibt dem Mann, der jede Hilfe verweigert, zwanzig Dollar und fährt weiter. Erst danach setzt die Erkenntnis ein, gerade einen schwer verletzten Menschen sich selbst überlassen zu haben, und das vielleicht nur, weil er Mexikaner war, diesen nicht verstand. Doch was macht ein Mexikaner um diese Zeit mitten im Nirgendwo, fragt sich Delaney, denkt nach und nun verwandelt sich Sorge in Wut: „He was camping down there, that’s what he was doing…, dumping his trash behind rocks, pulluting the stream and ruining it for everyone else…it was people like this Mexican or whatever he was who were responsible, thoughtless people, stupid people, people who wanted to turn the whole world into a garbage dump, a little Tijuana…” Außerdem habe sich der Mann absichtlich, für Geld, vor sein Auto geworfen, da ist er sich sicher.
Die Welt illegaler Einwanderer in Kalifornien
Doch von der Misere, dem Schicksal des Mannes, den er da zusammenfährt, hat er keine Ahnung. Cándido und seine Frau América führen ein tristes Dasein am Fuße des Canyons. In der Hoffnung auf ein besseres Leben fliehen sie aus dem mexikanischen Tepoztlán ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Doch schon an der Grenze werden die beiden von einem Menschenhändler hochgenommen. Ohne Geld gelangen sie nach Kalifornien, wo sie sich verzweifelt unter freiem Himmel über Wasser halten. Täglich wandert Cándido den Pass hoch, über die Straße zum Labor Exchange, wo er sich in unter seinesgleichen einreiht. Hier wartet er, oft den ganzen Tag vergeblich, auf ein Arbeitsangebot reicher Gringos (Amerikaner), um für diese für drei Dollar in der Stunde zu schuften. Doch die Zeiten sind schlecht. Zu viele Mexikaner, zu wenig Arbeit. Als er nun überfahren wird, kann er nicht mehr arbeiten. In großer Not, ohne Nahrung und ohne Geld, erlaubt er América statt seiner zum Labor Exchange zu pilgern. „Of all that mob, she was the only woman.” Verängstigt wartet die Siebzehnjährige, schwanger, in der Menge ausgehungerter, wild drein blickender Landsmänner. „Most of them were here alone, separated from their families – and their wifes – for months at a time. They were starving, and she was fresh meat.“ América hat Angst, doch ihr bleibt keine andere Wahl, als hier auf ihr Glück zu warten, auf ein wenig Arbeit. Sie wird belohnt, und darf für 25 Dollar pro Tag im Haus eines arroganten Gringos schuften, der sie keines Blickes würdigt und sogar begrabscht. Das Paar erntet vor allem eines, Hass und Ablehnung. Missbilligend werden sie aus den Luxusautos heraus, im Supermarkt, angestarrt, verachtet. Mit Augen, die sagen: „Get out, get out of here and go back where you belong.”
Wandel in Delaney
Delaneys Toleranz und Weltoffenheit stehen auf dem Prüfstand. Autos fahren des Nachts langsam durch die Gassen, beim Wandern trifft er auf zwei gefährliche Mexikaner, eines Tages wird einer der beiden Hunde von einem Coyoten gerissen, und dann wird auch noch sein Auto gestohlen. Da ist nichts, was er dagegen tun kann. Delaney sieht grundsätzliche Werte verletzt und ihm missfällt, dass die Welt um ihn herum dies einfach hinzunehmen scheint: „People seemed to just accept the whole thing as if they were talking about the weather was what really got him. Own a car, it will be stolen. Simple as that.“ So entwickelt er Stück für Stück eine extreme Haltung, die seinem Inneren widerspricht, die er aber nicht unter Kontrolle hat. Das ist ein interessanter Standpunkt von T.C. Boyle, den er in einem Interview über das Buch nennt. Wir alle malen uns aus, uns in dieser oder jener Situation richtig zu verhalten. Doch wie wir uns tatsächlich verhalten, wissen wir nicht. So ist es bei Delaney. Er ist innerlich zerrissen, seine innere politische Korrektheit entspricht nicht seinen Handlungen. Als er den heruntergekommenen Mexikaner zufällig im Supermarkt trifft, empfindet er nur Hass gegen diesen.
Blind vor lauter Wohlstand
Wie er, ist auch der Rest der Gemeinde blind dem Schicksal illegaler Einwanderer gegenüber. Dabei sind es sind Mexikaner, die sie für ein paar Dollar in ihren Häusern schuften lassen, und diese gleichzeitig in der Öffentlichkeit missbilligen. Es ist Cándido, der in Delaneys’ Garten letztlich die Zaunanlage baut. Eine Barriere, das weiß er, der die Reichen gegen Menschen wie ihn schützen soll. Delaneys’ Frau Kyra, erfolgreiche Immobilienmaklerin, ist vor allem eines wichtig, Karriere. Weshalb etwas so ist, wie es ist, lässt sie nicht an sich heran, es interessiert sie nicht. Ihr Hund wird getötet, also muss der Zaun her, basta. Die Massen von Immigranten am Labor Exchange könnten Hauskäufer abschrecken, also lässt sie diesen räumen: „Somebody had to do something about these people – they were ubiquitous, prolific as rabbits, and they were death for business.” In welch bedrängliche Lage sie die Mexikaner bringt, interessiert sie nicht. Das Schockierende ist, so sagt Boyle im Interview, das die Figur Kyra mit so vielen von uns identisch ist. Sie ist kein schlechter Mensch, doch einfach blind den wahren Gegebenheiten gegenüber.
Zerstörte Seelen
All das nehmen Cándido und América in Kauf. Sie versuchen alles, um das notwendige Geld zusammen zu sparen und der Straße zu entkommen. Doch es gelingt ihnen nicht. Gerade bessert sich die Lage ein wenig, da werden sie auch schon beklaut, müssen sich aus Mülltonnen ernähren. Mit dem Schließen des Labor Exchange gibt es keine Arbeit mehr. América erkennt nun, dass ihr neues Leben die Hölle ist, wünscht sich zurück nach Mexiko. Als sie auf dem Weg in den Canyon noch vergewaltigt wird und ihr Kind daraufhin behindert zur Welt kommt, ist sie ein zerstörter Mensch, beraubt aller Hoffnungen und Träume. Cándido ist verzweifelt, seine Sicht auf die Welt der Reichen erschütternd: „They lived in their glass palaces, with their gates and fences and security systems, they left half-eaten lobsters and beefsteaks on their plates when the rest of the world was starving, spent enough to feed and clothe a whole country on their exercise equipment, their swimming pools and tennis courts and jogging shoes, and all of them even the poorest, had two cars. Where was the justice in that?”